Stuttgart. Seit drei Jahren sind die Wirtschaftsnachrichten fast durchgängig von Pessimismus überschattet. Kein Wunder: Erst die Corona-Pandemie und dann Russlands Krieg in der Ukraine haben uns an den Rand einer Rezession gebracht. Die globale Konjunktur dümpelt immer noch vor sich hin. Trotzdem hat sich das Geschäftsklima in der deutschen Industrie zuletzt etwas aufgehellt, auch die Exporterwartungen sind wieder leicht im Plus.
Die Industrie liefert ein Drittel der Wertschöpfung
Für Baden-Württemberg ist das besonders wichtig. Denn kein anderes Bundesland ist so stark von der Industrie geprägt. Sie beschäftigt hier mehr als 1,17 Millionen Menschen. Gemeinsam sorgen sie für 30 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung. Das heißt: Knapp ein Drittel aller Güter und Dienstleistungen, die im Südwesten hergestellt und erbracht werden, stammen von Industrieunternehmen. Im Bundesdurchschnitt ist es nur ein Fünftel. In diesem Schwerpunkt zeigt aktiv zehn Gründe dafür auf, warum die Metall- und Elektro-Industrie hier so stark ist – und es wohl auch bleiben wird.
Übrigens: Baden-Württemberg gehört zu den „vier Motoren für Europa“, zu den vier wirtschaftsstärksten Regionen der EU. Im März hat unser Bundesland für ein Jahr den Vorsitz des Netzwerks übernommen, in dem es sich mit den Regionen Auvergne-Rhône-Alpes (Frankreich), Katalonien (Spanien) und Lombardei (Italien) austauscht. Das Ziel: die grüne und digitale Transformation voranzutreiben – und so die EU insgesamt zu stärken.
1. Unschlagbar im Maschinenbau
Vom Autoteil bis zur Zahnbürste: Egal was produziert wird – ohne Maschinen läuft nichts. Und ein großer Teil aller Maschinen weltweit kommt aus Baden-Württemberg! Von den bundesweit rund eine Million Beschäftigten im Maschinenbau arbeiten knapp 30 Prozent im Südwesten. Im vergangenen Jahr gingen von hier aus Maschinen und Anlagen im Wert von 46 Milliarden Euro ins Ausland.
Aus Schwäbisch Hall kommt zum Beispiel einer der Technologieführer bei Verpackungsmaschinen, die Optima Packaging Group. Exportanteil: über 85 Prozent! Und aus Göppingen kommt Schuler, Spezialist in der Blechumformung. Die allermeisten Münzen auf dem ganzen Globus wurden auf einer Münzprägepresse mit Schuler-Technologie hergestellt.
2. Führend bei der Mobilität
Schon früh haben Baden-Württemberger die Mobilität entscheidend geprägt: Im Jahr 1818 erfand der Karlsruher Karl von Drais den Vorläufer des Fahrrads. Und 1886 meldete Carl Benz aus Mannheim das erste Automobil zum Patent an.
Heute ist Baden-Württemberg ein internationaler Top-Standort der Autobranche. Das erste vollelektrische Modell beispielsweise, das Audi an einem deutschen Standort baut, läuft seit Ende 2020 im Werk Böllinger Höfe (Heilbronn) vom Band. Am hiesigen Standort baut Audi auch die Entwicklung neuer Hochvoltbatterien aus, mit einem Labor für Pilotprojekte („Batterietechnikum“).
Über 1.000 Zulieferer aus dem Mittelstand sind hier ansässig, neben den großen Systemlieferanten.
Bosch betreibt zum Beispiel in Abstatt einen Entwicklungsstandort mit rund 6.000 Mitarbeitern aus mehr als 50 Staaten, die sich unter anderem mit Lösungen fürs autonome Fahren beschäftigen.
3. Weltweit zu Hause
Baden-Württemberg ist das Land der Weltmarktführer, der Hidden Champions – das sind Unternehmen, die der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind, in ihrer Branche aber zu den Top Drei auf dem Weltmarkt gehören. Zu den 500 wichtigsten heimlichen Weltmarktführern in Deutschland rechnet die Zeitschrift „Wirtschaftswoche“ rund 180 aus dem Südwesten. Das Landeswirtschaftsministerium zählt insgesamt etwa 400 solcher Unternehmen, die meisten in der M+E-Industrie. Pro Kopf gerechnet ist hier die Hidden-Champions-Dichte am höchsten. Mehr zum Thema Hidden Champions aus Deutschland auf aktiv-online.de.
Diese Betriebe sind auffallend exportstark: Manche erreichen eine Exportquote von an die 90 Prozent! Die baden-württembergische Industrie insgesamt verkauft rund 60 Prozent ihrer Produkte ins Ausland – und macht uns damit zum exportstärksten Bundesland. 2021 gingen Waren im Wert von 220.992.226.000 Euro in alle Welt, darunter vor allem Autos und Maschinen.
4. Traditionell gut aufgestellt
Ein Großteil der Hidden Champions sind Familienunternehmen, die oft schon seit mehreren Generationen in Familienhand sind. Viele bestehen schon seit mehr als 100 Jahren, im Schnitt blicken sie auf 70 Jahre Erfolgsgeschichte zurück. In ihrer Heimat sind sie entsprechend fest verwurzelt. Am Anfang stand meist ein typischer Tüftler, der für ein Problem eine technische Lösung finden wollte. Die Nachfolger dieser Pioniere erwirtschaften heute einen beträchtlichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts, deshalb werden diese Mittelständler auch gern das „Rückgrat unserer Wirtschaft“ genannt. 90 der 500 umsatzstärksten Familienunternehmen in Deutschland sitzen im Südwesten.
Manche Firmen beliefern mit nur 60 Mitarbeitern den Weltmarkt – etwa Bareiss Prüfgerätebau aus Oberdischingen. Geschäftsführerin Katrin Shen erklärt, was sie so stark macht: „Familienunternehmerinnen und -unternehmer planen und handeln langfristig. Wir wollen das Lebenswerk unserer Vorgänger an die nächste Generation weitergeben.“
5. Vernetzt mit der Forschung
Europaweit spitze: In Forschungsvergleichen der EU-Regionen belegte Baden-Württemberg wiederholt Platz eins. Verglichen wird bei solchen Analysen, welcher Anteil vom Bruttoinlandsprodukt in Forschung und Entwicklung investiert wird.
Mehr als 100 Cluster sind im Clusterportal Baden-Württemberg aufgeführt. Cluster – so nennt man eine Ansammlung von Unternehmen und Institutionen mit ähnlicher Ausrichtung. Beispiele sind das Cluster Elektromobilität Süd-West oder das Cluster Brennstoffzelle BW. Oder das „Cyber Valley“ Tübingen – Europas größtes Forschungskonsortium in Sachen künstliche Intelligenz (KI): Hier hat jüngst auch Amazon einen Standort eröffnet.
Unternehmen arbeiten hier besonders eng mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen zusammen. Etwa mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart. 1.200 Mitarbeiter beschäftigen sich da mit Produktionstechnik, gemeinsam mit Industrieunternehmen. Neue Forschungszentren entstehen landauf, landab, selbst jetzt in Krisenzeiten. So ist in Heilbronn ein KI-Forschungszentrum geplant.
6. Krisenerprobt
Die Leistungskraft und die Beständigkeit der Hidden Champions und anderer Familienunternehmen sind ein Grund dafür, dass Deutschland recht glimpflich durch diverse Krisen gekommen ist. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bezeichnet sie als „Stabilitätsanker“. Dank ihrer führenden Marktposition und der globalen Präsenz können solche Firmen gerade die aktuelle Krise „deutlich besser abfedern“. Und die Stiftung Familienunternehmen erklärt: „Familienunternehmer investieren ihr eigenes Geld“ – deswegen denken sie sehr langfristig und wirtschaften besonders umsichtig.
Das spiegelt sich auch in der hohen Eigenkapitalquote wider: Diese lag 2021 bei deutschen Unternehmen insgesamt bei knapp 31 Prozent – bei den industriellen Mittelständlern (meistens sind das Familienunternehmen) dagegen zwischen 36 und 40 Prozent. Das bedeutet: Diese Unternehmen finanzieren ihre Investitionen mehr aus eigenen Mitteln und weniger aus Krediten. Daher sind sie weniger verschuldet und haben auch in mageren Jahren immer noch gewisse Reserven.
7. Innovationsstark
Zwar lässt der Erfindungsreichtum in Deutschland allgemein nach, aber die baden-württembergischen Entwickler haben bundesweit und auch global immer noch die Nase vorn. Mehr als jedes dritte Patent in Deutschland kommt aus dem Südwesten. Mit genau 13.444 Patentanmeldungen im letzten Jahr ist Baden-Württemberg deutscher Meister. Pro Kopf entspricht das 121 Patenten auf je 100.000 Einwohner.
Die internationale Patentstatistik listete 2022 unter den Top Ten der innovativsten Unternehmen weltweit gleich vier aus dem Südwesten: Bosch, ZF Friedrichshafen, Mercedes-Benz und Porsche. Patentweltmeister Bosch ist auf vielen Zukunftsfeldern gleichzeitig aktiv, etwa im Bereich Energiegewinnung mit Wasserstoff und im Quantencomputing.
Aber auch viele kleinere Firmen pflegen ein gezieltes Innovationsmanagement für ihre Nische. So werden die Mitarbeiter ermutigt, immer wieder neue Ideen zu entwickeln.
8. Einmalig
Wichtige Innovationen können ein absolutes Alleinstellungsmerkmal sein. So werden die derzeit leistungsfähigsten Mikrochips auf dem Markt mit Hightech von Maschinenbauer Trumpf und Feinoptik-Spezialist Zeiss gefertigt. Niemand sonst beherrscht diese Technik. Das Geheimnis: ein extrem schnell pulsierender Laser von Trumpf. Pro Sekunde trifft er jedes einzelne von unglaublichen 50.000 Zinntröpfchen zweimal. Die Tröpfchen verdampfen zu sehr kurzwelligem Licht, dem Extrem-Ultraviolett-Licht (EUV). Spezielle Spiegel von Zeiss lenken die Strahlen auf Trägerplatten, die sogenannten Wafer. So werden Mikrochips belichtet, die ein Maximum an Daten aufnehmen können. Geliefert werden diese Systeme exklusiv an die Firma ASML in den Niederlanden, die sie in ihre Maschinen für die Halbleiterproduktion einbaut.
Solchen Spitzentechnologien geht eine lange und beharrliche Entwicklungsarbeit voraus. Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller sagt: „Heute zahlt es sich aus, dass wir bei EUV einen so langen Atem hatten.“
9. Lebendig
Viele neue Techniken und Produkte kommen auch aus der blühenden Start-up-Szene. Oft werden die jungen Firmen aus Fraunhofer-Instituten oder anderen Forschungseinrichtungen ausgegründet. Mit der Initiative „Gründermotor“ unterstützt der Arbeitgeberverband Südwestmetall Start-ups, die frischen Wind für die M+E-Industrie versprechen. Viele dieser Geschäftsmodelle haben mit der Digitalisierung, dem Datenmanagement oder Künstlicher Intelligenz (KI) zu tun.
Das„Internet of Things“, also die Vernetzung von Maschinen, Produkten und Prozessen in der intelligenten Fabrik, spielt eine wichtige Rolle. Zum Beispiel für die visuelle Ersatzteilerkennung, die Montageplanung, die Intralogistik oder die papierlose transparente Produktion. Start-Ups sind aber auch stark bei Kundendienstleistungen rund um vorausschauende Wartung, Maschinen-Leasing, Robotik, effiziente Bauteilentwicklung und Lösungen für die E-Mobilität, etwa für die Ladeinfrastruktur.
10. Top qualifiziert
Was macht den Erfolg eines Unternehmens aus? Ganz wichtig: Die Menschen. So bedankte sich jetzt der Vorstandsvorsitzende von Hansgrohe, Hans Jürgen Kalmbach, bei seiner Belegschaft für ihre Flexibilität und ihren Teamgeist. Immer wieder betonen auch andere Firmenchefs: Die Menschen sind unser wichtigstes Kapital.
Rund 980.000 Beschäftigte hat die M+E-Industrie. Ihre Einsatzbereitschaft, Erfahrung und Qualifikation sind für Betriebe von unschätzbarem Wert. Die Unternehmen und der Arbeitgeberverband Südwestmetall bieten deshalb viele Bildungsprojekte an – für jede Altersgruppe vom Kleinkind bis zum Senior.
Derzeit machen rund 53.000 junge Leute eine duale Ausbildung in der Branche. Im ersten Jahr verdient man in tarifgebundenen Unternehmen 1.037 Euro im Monat – und wird top aufs Berufsleben vorbereitet. Die Ausbildung bei Hansgrohe etwa wurde mit dem Gütesiegel „best place to learn“ ausgezeichnet. Studieren mit Praxisbezug – darin hat der Südwesten besonders viel Erfahrung: Die Duale Hochschule Baden-Württemberg war die erste staatliche duale Hochschule Deutschlands.
Auch interessant: Um 75 Prozent ist die Zahl der Ingenieurinnen in Baden-Württemberg seit dem Jahr 2013 gestiegen. Viele haben M+E-Berufe.
Leistungsstarke Industrie
- 1,4 Prozent legte die Wirtschaft im Südwesten im Jahr 2022 zu – trotz der Krisen.
- 19.500 Industrie-Beschäftigte sind seit dem Februar 2022 dazugekommen.
- 34,9 Milliarden Euro setzte die Industrie allein im Monat Februar 2023 um.
Quelle: Statistisches Landesamt
Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.
Alle Beiträge der AutorinAls Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.
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