Tuttlingen. Was für Menschen wichtig ist, brauchen auch Schweine: Impfungen! Doch die zu verabreichen, kann kompliziert sein – weil das liebe Vieh nicht immer stillhält. Und wenn die Tiere unruhig werden, kann die Nadel abbrechen. Deshalb verzichten viele Landwirte ganz aufs Immunisieren und mischen stattdessen bei Bedarf Antibiotika ins Futter. Oder setzen auf eine Neuheit: die Spritze ohne Nadel! Eine praktische Erfindung – aus Tuttlingen. aktiv hat dort den Medizintechnik-Hersteller Henke Sass Wolf besucht und nachgefragt: Wer entwickelt eigentlich solche Innovationen?

„Der Impfstoff gelangt per Hochdruck ins Tier“

Stolz zeigen Robin Sauter und Simon Raidt die Erfindung namens „EPIG“. Raidt ist als Produktmanager verantwortlich für das Gerät. „Der Impfstoff gelangt per Hochdruck direkt ins Muskelgewebe“, erklärt er. Das Gerät sei schon seit 2020 auf dem Markt und inzwischen rund um den Globus im Einsatz – ob in Kanada, Südafrika oder Australien. Die Impfung damit schmerze weniger, die Tiere blieben entspannter. Und die Impfprozedur gehe schneller.

Sauter ist Gruppenleiter im Bereich Forschung und Entwicklung. Die Kunden seien sehr interessiert, berichtet er, das habe sich zum Beispiel kürzlich bei der Messe Eurotier in Hannover gezeigt. „Viele Landwirte freuen sich, ihre Tiere schonender impfen zu können.“ Und dass ihnen lästiger Papierkrieg erspart bleibt – denn zum Gerät gibt’s eine App. „Die erledigt die Dokumentation automatisch“, erklärt Raidt.

Der Stammsitz des Unternehmens ist eine Ideenschmiede

Bei Henke Sass Wolf entstehen noch viel mehr Innovationen, auch für die Humanmedizin. Wann immer etwa in den Krankenhäusern dieser Welt minimalinvasiv operiert wird – das Tuttlinger Unternehmen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit dabei. Denn Henke Sass Wolf ist einer der weltweit führenden OEM-Hersteller für starre medizinische Endoskope, die unter den verschiedensten Markennamen in Kliniken eingesetzt werden. Solche Endoskope haben einen starren Schaft, durch den weitere Instrumente eingeführt werden können.

Video: So funktioniert das Impfen ohne Spritze

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Die Produktpalette in diesem Bereich ist riesig: So fertigt das Traditionsunternehmen etwa spezielle Endoskope für Operationen im Bauchraum, an den Stimmbändern, im Knie und an den Fingergelenken. 550 der weltweit 1.600 Beschäftigten arbeiten am Stammsitz Tuttlingen, so wie Sauter und Raidt. Sie feilen täglich an neuen Ideen. „Die sind schnell da“, sagt Sauter. „Das Schwierige ist, daraus ein funktionierendes Produkt zu machen.“ Sauter hat in Tuttlingen Medizintechnik studiert, Raidt im nahen Schwenningen – beide Standorte gehören zur Hochschule Furtwangen. „Dass Tuttlingen Weltzentrum der Medizintechnik ist, macht einen stolz, wenn man hier aufgewachsen ist“, sagt Raidt. Medizintechnik sei hier „fast etwas Heiliges“.

Zu Henke Sass Wolf kam er nach dem Studium als Entwicklungsingenieur – und landete erst mal unfreiwillig im Bereich für Veterinärprodukte. „Zuerst war ich enttäuscht, keine Anwendungen für Menschen zu entwickeln“, erinnert er sich. „Ich habe aber schnell gemerkt, dass es im Bereich Veterinär viel besser ist. Hier hat man mehr Freiheiten und kann kreativer arbeiten.“

Die App zum Impfgerät sendet dem Landwirt direkt die Dokumentation

Das liegt daran, dass die Medizintechnik für Tiere nicht so streng reguliert ist. „Es gibt weniger Bürokratie-Hindernisse“, sagt Raidt. Sauter sieht das genauso. Kollegen, die Medizintechnik für die Humanmedizin entwickeln, seien viel stärker eingeschränkt von den Auflagen der Zulassungsverfahren.

Aktuelles Beispiel: die neue Medizinprodukte-Richtlinie der EU. Sie überziehe die Branche mit einem Regulierungswahnsinn, kritisiert Sauter: „Vor lauter Papierkrieg haben die Kollegen teilweise kaum Zeit für ihre eigentliche Arbeit, die Entwicklung neuer Produkte.“

„Wir entwickeln Lösungen für alles vom Fisch bis zum Elefanten“

Ganz anders der Veterinär-Bereich: Sauter und Raidt empfinden die Arbeit hier als weites Feld voller Möglichkeiten. Die App zum nadellosen Impfgerät ist ein Beispiel. Sie sendet dem Landwirt oder Tierarzt die Dokumentation automatisch ins Mail-Postfach. Darin steht dann, wie viele Tiere mit welchem Impfstoff behandelt wurden. In der Humanmedizin kann sich jedwede App mit sensiblen Gesundheitsdaten kaum durchsetzen. Im Veterinärbereich dagegen ist diese Lösung ein Gewinn für die Kunden.

Die beiden entwickeln mit ihren Teams auch viele andere Produkte. Allein 600 verschiedene Varianten gibt es etwa von der „normalen“ Spritze für Tierimpfungen, mit Nadel. Daneben liefern die Tuttlinger auch Geräte zum Dosieren und Aufbringen von Mitteln auf Haut und Fell und „Drencher“: Damit lassen sich Nutztieren Medikamente und Nahrungsergänzungen oral verabreichen. „Wir entwickeln Lösungen für alles vom Fisch bis zum Elefanten“, fasst Sauter zusammen. Sein Kollege Raidt ergänzt: „Das macht Spaß! Ich komme jeden Tag gern zur Arbeit.“

Vom Ein-Mann-Betrieb zum Global Player

  • Henke Sass Wolf entstand vor 101 Jahren: Gründer Georg Henke fertigte in einem Kellerraum Spritzen und Kanülen.
  • 1.600 Mitarbeiter weltweit hat das Familienunternehmen inzwischen. Spritzen und Kanülen gehören immer noch zum Angebot, sie waren etwa im Zuge der Corona-Impfungen sehr gefragt.
  • Die Tuttlinger sind heute vor allem technologisch führender OEM-Hersteller von starren Endoskopen. OEM steht für „Original Equipment Manufacturer“ und bedeutet so viel wie Erstausrüster. Henke Sass Wolf liefert auch Produkte für die Veterinär- und Zahnmedizin. Über 80 Prozent der Erzeugnisse gehen ins Ausland.
  • Das Unternehmen liefert auch Lösungen für die technische Endoskopie. Die „Patienten“ sind hier Gebäude, Maschinen oder Anlagen: Mit Spezial-Endoskopen lassen sich schwer zugängliche Stellen prüfen.
Barbara Auer
aktiv-Redakteurin

Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.

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