Flugzeuge bleiben am Boden. Bahnen, Busse und Betriebe stehen still – Streiks legen derzeit die Republik lahm. Dabei haben zahlreiche andere Branchen dieses Jahr die Tarifkonflikte erst noch vor sich. aktiv sprach über dieses wichtige Thema mit Hagen Lesch. Er ist Leiter des Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik am IW.

Herr Lesch, was sind die Gründe dafür, dass es derzeit zu so vielen, sehr massiv geführten Arbeitskämpfen kommt? Liegt das an den Wohlstandsverlusten durch die Inflation?

Es gibt verschiedene Ursachen. Eine ist der Kaufkraftverlust durch die Krisen. Die Gewerkschaften versuchen jetzt, diesen im Nachhinein auszugleichen. Das Problem dabei ist: Die Unternehmen trifft das in einer Phase, in der auch sie in Schwierigkeiten sind. Wir stecken in einer Rezession und viele Unternehmen haben gerade nicht unbedingt die Spendierhosen an.

Es geht also am Ende darum, wer die Kosten der Krisen trägt?

Im Prinzip ja. Uns ist durch die Krise einfach Wohlstand verloren gegangen, beispielsweise durch die höheren Energiepreise. Die Frage ist, wie verteilen wir diesen Wohlstandsverlust zwischen Beschäftigten und Unternehmenssektor auf. Bisher ist das ziemlich gleich verteilt. Die Beschäftigten haben Reallohnverluste getragen, auf der anderen Seite haben viele Unternehmen weniger Gewinne gemacht oder Verluste erlitten. Beide Seiten haben ihren Teil der Last getragen. Und was wir jetzt im Moment erleben, ist, dass die Gewerkschaften versuchen, die Anpassungslasten auf die Unternehmen abzuwälzen. Und das mitten in einer Rezession und bei einer deutlich zurückgehenden Inflationsrate.

Spielt auch ein neues Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer durch den Fachkräftemangel eine Rolle?

Die Gewerkschaften haben gerade den Vorteil, dass die schlechte Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt noch nicht so richtig angekommen ist. Die Arbeitslosigkeit steigt zwar, aber die Beschäftigung steigt auch noch. Deshalb hat man relativ wenig Angst, dass zu hohe Lohnabschlüsse zu viel Beschäftigung kosten könnten. Dies stärkt den Gewerkschaften in den Forderungen den Rücken. Der Schein trügt allerdings, das merkt man bereits an häufiger werdenden Entlassungsankündigungen in einigen Branchen.

Sie sagen ja auch, Tarifkonflikte sind härter geworden. Was genau ist damit gemeint?

Tarifkonflikte eskalieren einfach stärker. Das bedeutet, dass nicht nur öfter zur Waffe des Streiks oder des Warnstreiks gegriffen wird, sondern es auch häufiger zu Verhandlungsabbrüchen kommt. Es werden auch vermehrt Urabstimmungen und Schlichtungen durch Dritte einberufen. Wir beurteilen die Tarifverhandlungen anhand aller dort üblichen Eskalationshandlungen. Dazu gehören verbal-formale Formen wie Streikdrohungen, Streikaufrufe oder Verhandlungsabbrüche sowie materielle wie Warnstreiks oder unbefristete Streiks. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften konfliktreicher agieren, weil sie damit Mitglieder gewinnen wollen.

Die GDL spricht jetzt von „Wellenstreiks“. Was ist das Besondere daran?

Normalerweise werden Streiks im Verkehrssektor vorher angekündigt. Vor allem aus Rücksicht auf die betroffenen Kunden, damit sie umdisponieren können und von der Deutschen Bahn ein bestimmtes Notprogramm gefahren werden kann. Ohne Ankündigung zu streiken, wird von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, kurz GDL, nun ganz gezielt eingesetzt, um der Bahn maximal zu schaden. Claus Weselsky sagte selbst sinngemäß, die Unsicherheit sei jetzt so groß und die Bahn gelte für uns Kunden als so unzuverlässig, dass keiner eine Fahrkarte kauft. Ob gestreikt wird oder nicht, die Leute trauen sich nicht mehr. Das will er erreichen. So muss die GDL auch weniger streiken. In dieser allgemeinen Unsicherheit genügt es, nur ab und zu für einige Stunden ernst zu machen. Das schont deren Streikkasse. Für die Gewerkschaft ist der Streik so finanziell effizienter, für die Bahn aber verheerend.

Das IW schätzte im Januar die Kosten des letzten Bahnstreiks auf 100 Millionen Euro je Tag. Nun kommt die zweite Auflage des GDL-Streiks. Und dieser ist ja beileibe nicht der einzige Arbeitskampf in diesem Jahr. Kann sich Deutschland bei der derzeitigen schwierigen wirtschaftlichen Situation Arbeitskämpfe leisten?

Betroffen sind in erster Linie die Unternehmen, die bestreikt werden. Und zahlreiche Dritte, also die Kunden der bestreikten Unternehmen. Die genauen Kosten, die gesamtwirtschaftlich durch Streiks im Verkehrssektor entstehen, also durch Zeitverlust im Stau oder Ähnliches, sind allerdings schwierig zu beziffern. Natürlich leidet auch das Image der Zuverlässigkeit des Standorts. Wenn sich für Investoren der Eindruck aufdrängt, wir haben hier jetzt französische Verhältnisse, dann ist das kein positives Signal. Einer unserer Vorteile war stets der soziale Frieden, und der besteht in so einem sensiblen Bereich wie dem Verkehr nun schon längst nicht mehr.

Streik galt mal als letztes Mittel im Tarifkonflikt. Diese Zeiten sind offensichtlich vorbei ...

Ja, das sehen wir an Warnstreiks, die oft viel früher einsetzen, oft schon nach der ersten Verhandlungsrunde. Die GDL wollte ja schon streiken, bevor überhaupt verhandelt wurde, weil sie meinte, es sei zwecklos. Und früher ging es bei Streiks um Stunden, heute sind es Tage. Und daran sieht man schon, Gewerkschaften gehen weniger verantwortlich mit dem Mittel des Streiks um.

Es werden immer mehr Stimmen laut, die neue gesetzliche Regeln für die Gewerkschaften fordern, etwa dass es vor Streikaktionen zu Schlichtungsversuchen kommen muss oder es für Streiks verpflichtende Ankündigungspflichten gibt. Wäre eine gesetzgeberische Änderung des Streikrechts überhaupt so ohne Weiteres möglich?

Der Gesetzgeber kann grundsätzlich Rahmenbedingungen vorgeben und Spielregeln für Arbeitskämpfe festlegen. Bisher definiert diese die Rechtsprechung. Nach Meinung vieler Juristen räumt aber die Rechtsprechung den Gewerkschaften mittlerweile zu viele Freiheiten ein. Es passiert auch selten, dass ein Streik von einem Gericht als unverhältnismäßig erklärt wird. Wenn das der Fall ist, dann wird meist eine tarifliche Friedenspflicht verletzt, aber es geht dabei nie darum, dass eine Gewerkschaft zu lange oder zu früh streikt. Da redet ihr im Prinzip niemand rein.

In manchen Branchen gibt es schon solche Spielregeln …

Ja, beispielsweise im Bausektor. Hier gibt es eine freiwillige tarifliche Schlichtungsvereinbarung, die sich die Branche selbst gegeben hat. Bei der Bahn gibt es die nicht. Wenn der Gesetzgeber hier etwa beim Thema Schlichtung einen Rahmen vorgibt, würde das zweifellos den Gedanken stärken, dass Streik nur das letzte Mittel ist. Das heißt ja nicht, dass eine Gewerkschaft nicht streiken darf. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob solche gesetzlichen Vorgaben nur für die Daseinsvorsorge gemacht werden sollten, etwa für Krankenhäuser, die Energieversorgung oder Verkehrsdienstleister. Oder auch in der Industrie, wo Streiks für Dritte zwar weniger spürbar sind, aber auch großen Schaden anrichten. Das heißt, bevor man gesetzgeberisch handelt, erfordert das meiner Meinung nach erst einmal eine umfassende politische Debatte.

Das klingt nicht nach einer schnellen Lösung, sondern einem längerfristigen Prozess.

Deshalb muss diese Debatte rasch geführt werden. Eine Bundesregierung wird ein solches Thema nur anpacken, wenn es eine breite öffentliche Unterstützung dafür gibt. Von selbst ist der Anreiz, so etwas anzupacken, eher gering, egal für welche Bundesregierung. Die DGB-Vorsitzende Frau Fahimi hat auch schon gedroht: Wenn der Gesetzgeber das Streikrecht anpackt, dann gehen die Gewerkschaften auf die Straße und mobilisieren ihre Mitglieder. Ohne Konflikt wird das also nicht ablaufen.

Gibt es neben einem solchen „harten Eingriff“ in die Tarifautonomie von staatlicher Seite noch andere Maßnahmen und Möglichkeiten, die Tarifparteien dazu bringen könnten, sich in diesen Zeiten schneller auf Kompromisse zu einigen?

Ja, es gibt, wie schon erwähnt, die Möglichkeit tariflicher Schlichtungsvereinbarungen. Ich fände es gut, wenn allein die Debatte über ein gesetzliches Schlichtungsrecht die Tarifparteien zur Einsicht bringen würde. Letztlich bedeutet Tarifautonomie, dass man eigenverantwortlich handelt. Wichtig ist dahingehend auch der öffentliche Druck. Wie sich zuletzt bei der verbalen Panne von Weselsky gezeigt hat, wird der Druck der Öffentlichkeit auf die Gewerkschaft immer stärker, sich wieder an den Verhandlungstisch zu setzen. Wenn die breite Masse es nicht gut findet, dass permanent gestreikt wird, lässt dies auch eine Gewerkschaft nicht unbeeinflusst. Wenn gestreikt wird, sollte es auch für die Bevölkerung überzeugend sein. Und das ist bei der Häufung, die wir derzeit haben, sicher nicht mehr gewährleistet.

Nun stehen in diesem Jahr zahlreiche Tarifverhandlungen an. Falls sich die Lage nicht bessert – könnte letztlich die Tarifpartnerschaft insgesamt Schaden nehmen?

Natürlich nimmt das Tarifsystem Schaden. Das merken wir schon an Ihrer Fragestellung: Bedarf es gesetzlicher Rahmenbedingungen für das Streikrecht? Im Prinzip schaden sich die Tarifparteien selbst, wenn sie keine wirksamen tarifautonomen Regelungen zur Konfliktbeilegung treffen. Denn jetzt diskutieren wir darüber, ob der Gesetzgeber eingreifen muss. Die Frage ist, wollen wir so einen Systemwechsel mit mehr staatlichen Interventionen haben oder wollen wir eine funktionsfähige Tarifautonomie. Ich bin der Meinung, im Sinne der Tarifautonomie sind die Tarifparteien einfach gefragt, ein vernünftiges Miteinander zu regeln.

Lesen Sie auf aktiv-online.de auch, warum die Tarifautonomie für den Standort Deutschland so wichtig ist. 

Fabian Stetzler
aktiv-Redakteur

Fabian Stetzler schreibt bei aktiv vor allem über die Chemie- und Pharma-Industrie. Er studierte Geschichte und Philosophie in Stuttgart und Berlin. Dann textete er für verschiedene Magazine und in London für Agenturen, bevor er beim Stuttgarter Stadtmagazin „LIFT“ volontierte. Nach Jahren dort als Redakteur war er freier Autor, etwa für die „Stuttgarter Zeitung“. Mit familiärem Hintergrund im Metallbau-Handwerk und einer DIY-Passion liebt er es, Theorie und Praxis zu verbinden.

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