München. Viele Betriebe in Bayern schlagen Alarm. Sie finden nicht genügend Fach- und Arbeitskräfte. Woran liegt das? aktiv-online sprach darüber mit dem IW-Arbeitsmarktexperten Oliver Stettes.
Herr Stettes, noch vor einigen Jahren war Fachkräftemangel kein akutes Thema. Plötzlich ist er da. Wie kommt das?
Wir haben zum einen das Phänomen des demografischen Wandels. Das hat in der breiten Masse lange niemand wahrgenommen. Darüber hinaus gibt es weitere Herausforderungen in Deutschland, für die wir Fachkräfte brauchen. Im Moment kommt das alles gleichzeitig auf uns zu.
Welche Herausforderungen sind das?
Das sind die drei „D“: die Dekarbonisierung, also die Herausforderung, den ökologischen Wandel zu schaffen. Dann die Digitalisierung und als Drittes eben der demografische Wandel. Schwierig ist, dass wir für die ersten beiden Punkte mehr und andere Fachkräfte als bislang brauchen – und das zu einer Zeit, in der wir durch den demografischen Wandel in eine große Rentenwelle hineinlaufen.
Können wir die Fachkräfte nicht einfach ausbilden?
Das ist ein wichtiger Baustein. Bei digitalen Fertigkeiten geschieht das schon in gewissem Maß, auch in Unternehmen. Denn die Digitalisierung der Produktionsprozesse oder Geschäftsmodelle ist ein klares ökonomisches Optimierungskalkül. Ich kann damit produktiver werden, schwere und monotone Arbeit von Maschinen verrichten lassen und einen Teil der fehlenden Arbeitskräfte dadurch ersetzen. Allerdings reichen die bisherigen Fachkräfte nicht aus. Und ich bin sicher, dass wir noch einen richtigen Schub bei der Digitalisierung bekommen, wenn wir die konjunkturelle Delle, die durch die Coronapandemie angefangen hat, endlich hinter uns gelassen haben.
Was ist mit der Dekarbonisierung?
Da ist die Lage anders. Diese Transformation ist politisch getrieben, mit politischen Zielvorgaben, etwa zu CO2-Einsparung, Art der Energieversorgung, die Zukunft der Verbrennungsmotoren und so weiter. Das ändert sich ständig, daher ist unklar, welche und wie viele Fachkräfte wir wann brauchen. Betrieben fällt es da schwer, zielgerichtet zu investieren.
Also erst mal abwarten?
Natürlich sollte niemand investieren, wenn er nicht weiß, in was. Aber wir müssen jetzt dringend Weichen stellen, um Fach- und Arbeitskräfte zu bekommen. Da drängt die Zeit. Wenn wir jetzt nichts tun, ist die Lage in zehn Jahren noch viel schlimmer. Denn dann ist die sogenannte geburtenstarke Babyboomer-Generation endgültig in Rente. Wenn so viele Arbeitskräfte fehlen, kommt die Digitalisierung nicht in Schwung, wir schaffen die Transformation nicht. Und unsere Gesellschaft wird tendenziell ärmer, weil ein immer kleinerer Teil Jüngerer für immer mehr ältere Menschen Geld verdienen muss.
Was müssen wir also tun?
Der erste Baustein ist das inländische Potenzial. Dazu gehört, das Arbeitsvolumen der Berufstätigen zu erhöhen, indem etwa Arbeitnehmer statt Teilzeit vollzeitnah arbeiten. Und wir müssen die Erwerbsbeteiligung Älterer erhöhen. Wir sollten im Schnitt später als heute in Rente gehen und leichter über das gesetzliche Rentenalter von 67 hinaus arbeiten können. Zudem müssen wir Arbeitslose in den Arbeitsmarkt holen.
Welches ist der zweite Baustein?
Wir müssen Zuwanderung gezielt fördern. Dazu gehört, Verfahren und Prozesse zu verschlanken, eventuell auch Lösungen wie Zeitarbeit aus dem Ausland zuzulassen.
Alix Sauer hat als Leiterin der aktiv-Redaktion München ihr Ohr an den Herausforderungen der bayerischen Wirtschaft, insbesondere der Metall- und Elektro-Industrie. Die Politologin und Kommunikationsmanagerin volontierte bei der Zeitungsgruppe Münsterland. Auf Agenturseite unterstützte sie Unternehmenskunden bei Publikationen für Energie-, Technologie- und Mitarbeiterthemen, bevor sie zu aktiv wechselte. Beim Kochen und Gärtnern schöpft sie privat Energie.
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