Über die aktuelle Lage der deutschen Industrie sprach aktiv mit Professorin Galina Kolev-Schäfer von der TH Köln. Sie ist auch Expertin für internationale Wirtschaftsbeziehungen am Institut der deutschen Wirtschaft.
Die hiesige Industrie steckt in einer Art Dauerkrise. Warum?
Die Gründe sind vielfältig. Da sind zum Beispiel die Energiekosten: Sie waren bei uns schon vor der aktuellen Krise deutlich höher als bei wichtigen Konkurrenten aus dem Ausland. Und da ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt: Seit Jahren macht sich der Fachkräfte-Engpass immer mehr bemerkbar. Dann die allgemeine Standortqualität: Deutschland verliert für Unternehmen an Attraktivität – und es ist nicht absehbar, wie dieser Prozess mit dem aktuellen wirtschaftspolitischen Kurs zu stoppen ist! Vor etwa zehn Jahren gehörte Deutschland noch zu den Top Fünf im World Competitiveness Ranking des World Economic Forum. Im vergangenen Jahr war es nur noch Platz 22.
Was könnten wir uns denn von anderen Staaten abschauen?
Andere Länder punkten nicht nur mit niedrigeren Energiepreisen. Sie haben sich die globalen Megatrends zunutze gemacht und ihre Finanz- und Steuersysteme umgebaut, bürokratische Prozesse vereinfacht und digitalisiert, ihr Bildungssystem den heutigen Anforderungen des Arbeitsmarkts angepasst. Während wir in Deutschland schon stolz sind, wenn ein Smartboard im Klassenzimmer hängt, gehören digitale Medien etwa in den skandinavischen Ländern seit Jahren zum Alltag. Auch die öffentliche Verwaltung hat in vielen Ländern einen Produktivitätsschub durch die Digitalisierung erfahren. Während im EU-Durchschnitt fast jede zweite Person den digitalen Weg wählt, um Unterlagen bei öffentlichen Institutionen einzureichen, ist es in Deutschland nur jede vierte.
Diesen Rückstand spürt auch die Wirtschaft. Wird das nicht besser?
Die Verwaltungsprozesse sind langwierig und kompliziert, die Bürokratiekosten, mit denen die Wirtschaft konfrontiert ist, entsprechend hoch. Und es kommen neue bürokratische Hürden hinzu – etwa das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz seit 2023. Es macht die internationale Arbeitsteilung viel komplizierter, denn die Unternehmen müssen die Produktionsbedingungen entlang ihrer hoch komplexen globalen Lieferketten überwachen. Die Lage in den Entwicklungs- und Schwellenländern wird dadurch aber nicht etwa besser – weil viele Unternehmen sich von dort eher zurückziehen.
Die Industrie Baden-Württembergs ist sehr exportorientiert. Kann das auch ein Nachteil sein?
Die Integration der deutschen Industrie in die weltwirtschaftlichen Strukturen hat über Jahrzehnte positiv zur Entwicklung des hiesigen Wohlstands beigetragen. Schnell wachsende Märkte, günstige Vorprodukte, bessere Spezialisierung – all das wäre nicht möglich ohne die Globalisierung. Wenn die Weltwirtschaft aber ins Stocken gerät, dann sind sehr offene Volkswirtschaften wie Deutschland schnell davon betroffen. Aber: Die Hauptursachen für die industrielle Dauerkrise sind im Wesentlichen hausgemacht und müssen dringend angegangen werden.
„Hausgemacht“ – das klingt, als müsse die deutsche Politik einiges anders machen. Was denn genau?
Eine Reform des Steuersystems gehört genauso dazu wie eine Investitionsoffensive, damit wir künftigen Generationen einen attraktiven und keinen maroden Standort hinterlassen. Zudem brauchen wir deutlich mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Nicht nur, um die Klimakrise zu lösen: auch damit die Energiekosten niedriger und wir unabhängiger von Energieimporten werden.
Die Industrie hat bei uns einen besonders hohen Anteil an der Wertschöpfung. Ist das gut?
Die Bedeutung der Industrie für Baden-Württemberg und für Deutschland insgesamt ist enorm. Durch sie entstehen auch Jobs im Dienstleistungsbereich. Und auch die Forschung und Entwicklung hängt mit der Stärke der Industrie zusammen. Wichtig ist aber, die Ursachen für die aktuelle Flaute nicht in Kennzahlen wie dem Anteil der Industrie an der Wertschöpfung oder der Offenheit Deutschlands zu suchen, sondern die geschilderten politischen Herausforderungen anzupacken und dafür zu sorgen, dass Deutschland wieder ein attraktiver Standort für Produktion und Investitionen wird.
Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.
Alle Beiträge der Autorin