Es ist schon später geworden an diesem kühlen Oktoberabend, als es in der Straßkirchener Turnhalle mal wieder um die Wurst geht, im Wortsinne diesmal. Gleich zwei Besucher des BMW-Infoabends strecken die Hand aus nach der letzten Wurstsemmel auf dem Tablett am Cateringstand. Ein verlegenes Lächeln, dann einigt man sich – Schinken ist ja auch noch da.

Wäre ja auch zu blöd, sich über so was Banales wie Semmeln in die Haare zu kriegen. Erst ein paar Wochen ist es schließlich her, dass man sich hier über deutlich Gewichtigeres einig werden musste. Per Bürgerentscheid stimmte die Mehrheit der Straßkirchener für die Pläne des Autokonzerns BMW, auf einem Acker am Ortsrand ein riesiges Batteriewerk zu bauen. Endlich Klarheit, nach Monaten des Zanks im Ort. In der Turnhalle ist Bürgermeister Christian Hirtreiter immer noch erleichtert. „Ich bin froh, dass die Zustimmung der Bevölkerung so groß ist“, sagt er, mit Semmel in der Hand.

Ohne Investitionen droht das Aus für viele gut bezahlte Jobs

Sogar bundesweit fand die Abstimmung im niederbayerischen 3.500-Einwohner-Örtchen seinerzeit Beachtung. Selbst Kanzler Olaf Scholz hatte sich aus dem fernen Berlin eingeschaltet und an die Straßkirchener appelliert, doch bitte, bitte mit „Ja“ zu stimmen.

Kein Wunder. Denn eigentlich ging es hier um viel mehr als „nur“ um die Entscheidung darüber, ob irgendwo in Bayern eine Fabrik gebaut werden darf. Sondern darum, ob das eigentlich noch klappt mit der Ansiedlung von zukunftsfesten Jobs in Deutschland. Wie unter einem Brennglas kann man in Straßkirchen beobachten, wie schwer es hierzulande ist, Großprojekte umzusetzen. Und wie es am Ende dann doch gelingen kann. In Straßkirchen, beim großen Zoff zwischen Gegnern und Befürwortern des neuen Werks, ging’s tatsächlich um nicht weniger als die Zukunftsaussichten von BMW, des Freistaats und – ja, wirklich – auch um die Zukunft des Industriestandorts Deutschland. So richtig um die Wurst ging es also! Aber dazu später mehr.

Die deutsche Industrie: Sie erwirtschaftet rund ein Drittel der gesamten deutschen Wertschöpfung. Fast sechs Millionen Menschen arbeiten hierzulande im Verarbeitenden Gewerbe, in fast 25.000 Unternehmen. Doch der so wichtige Wirtschaftszweig steckt mitten in einem Transformationsprozess. Muss grüner, digitaler werden. Dafür braucht es: Investitionen. In die Infrastruktur. Wir brauchen Bahntrassen und Stromleitungen, Windparks und Wasserstoff. Und wir brauchen neue Fabriken.

Auto-Industrie braucht bestmögliche Rahmenbedingungen

Es steht viel auf dem Spiel. Während vielerorts die Wirtschaft wächst, wird Europas größte Volkswirtschaft, Deutschland eben, in diesem Jahr schrumpfen. Und es ist kein Naturgesetz, dass es danach schon besser werden wird.

„Wenn wir nicht wettbewerbsfähig bleiben mit grünem Stahl, mit grüner Chemie, mit Akku- und Chipfabriken, dann drohen der Ausverkauf der deutschen Industrie und das Aus für viele sehr gut bezahlte Arbeitsplätze“, warnt beispielsweise Hanno Kempermann, Chef der Analysefirma IW Consult.

Auch der Ökonom Marcus Wortmann, Experte für „Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft“ bei der Bertelsmann-Stiftung, drückt hart auf den Alarm-Buzzer: „Wenn uns die Transformation nicht gelingt, werden wir Abstriche beim Wohlstand sehen.“ Deutschland müsse darauf achten, seine Industrieproduktion „nicht leichtfertig“ zu verlieren. „Während wir aus geostrategischen Gründen besonders Teile der Grundstoffindustrien erhalten sollten, müssen wir aber auch in wirtschaftlich bedeutenden Bereichen wie der Auto-Industrie bestmögliche Rahmenbedingungen sicherstellen“, so Wortmann.

600.000 Hochvoltbatterien pro Jahr für die „Neue Klasse“

Und in Straßkirchen, Landkreis Straubing-Bogen, ging es genau darum. Anfang des Jahres erwarb BMW hier gut 100 Hektar Land. Das Ziel: der Bau eines Hochvoltbatteriewerks. Mit bis zu 600.000 E-Auto-Akkus pro Jahr sollte das geplante Werk die nahe gelegenen Standorte in Dingolfing, Regensburg und München versorgen. Und die zusammen 36.000 Jobs dort langfristig sichern. Derzeit richtet BMW sein Produktionsnetzwerk konsequent auf E-Mobilität aus. 2025 sollen die ersten Fahrzeuge der „Neuen Klasse“ vom Band rollen, rein elektrisch.

Doch schon vor dem ersten Spatenstich zog sich ein großer Graben durchs kleine Straßkirchen. Auf der einen Seite die Befürworter. Bis zu 3.200 neue Jobs in Straßkirchen, Ausbildungsplätze, Millionen an Gewerbesteuer für das klamme Stadtsäckel. Ein Jackpot für den Ort!

Entweder Straßkirchen – oder das Werk wird im Ausland gebaut

Und auf der anderen Seite die Gegner. 100 Hektar kostbarer „Gäuboden“, wie man das fruchtbare Ackerland hier nennt – für immer zubauen? Noch mehr Verkehr im Dorf? Frevel!

Der Streit entzweite Familien, man ging nicht mehr zur Feuerwehrübung, im „Pils Pub Royal“ wurde erbittert gezofft statt friedlich Dart gespielt. Überall im Dorf prangten Plakate, fürs Werk und dagegen, es war ein Zustand. Bis dann per Bürgerentscheid abgestimmt wurde. Ergebnis: 75 Prozent der Wahlberechtigten entschieden sich für das neue BMW-Werk. Das war deutlich!

Aber wenn’s anders gekommen wäre? „In Bayern schlägt das Herz unseres Unternehmens, und wir wollen, dass das auch zukünftig so bleibt“, hatte es kurz vor dem Bürgerentscheid einschwörend in einer Mitteilung des Konzerns geheißen. Und auch BMW-Vorständin Ilka Horstmeier ließ sich in Interviews durchaus deutlich zitieren: „Viele Unternehmen werden genau hinschauen, ob die Menschen Investition in nachhaltige Technologien und in zukunftsfähige Arbeitsplätze in Bayern überhaupt noch wollen.“

Sorge um die wirtschaftliche Zukunft in Bayern

In der Straßkirchener Turnhalle beäugen Dorfbewohner an diesem Abend großformatige Stellwände mit Plänen, Fotos und Infotexten. BMW-Mitarbeiter beantworten Fragen, ein Rentner fotografiert schimpfend den „Grünordnungsplan“. Auch Martin Götz ist wieder vorbeigekommen. „Ein negativer Bürgerentscheid, das wäre das Letzte gewesen, was wir hätten brauchen können“, sagt er. Götz, tätowierter Unterarm, grauer Bart, ist Wortführer der Bürgerinitiative „Pro BMW“. Monatelang hat er die Werbetrommel für das Batteriewerk gerührt. Dabei hat er mit BMW eigentlich gar nichts am Hut, er ist Feuerwehrmann. Was ihn antreibt, ist die Sorge um die wirtschaftliche Zukunft seiner Heimat.

„Das deutliche Ergebnis zeigt, dass die Bürger erkannt haben, wie wichtig es ist, das Werk hier zu bauen“, sagt Götz. Er zählt auf, wie viele alternative Standorte der Konzern geprüft habe. Ergebnis: Nirgends ist es so optimal wie in Straßkirchen. Entweder wird hier gebaut – oder wohl im Ausland. „Das waren keine Drohungen, man hat uns das ganz plausibel erklärt“, findet Götz.

Ja, der Gäuboden hier sei natürlich absolut schützenswert. „Aber wir reden nur von 100 Hektar.“ Und zudem seien zuletzt verstärkt Unternehmen aus der Region abgewandert, „vor allem nach Osteuropa, die wirtschaftliche Spirale geht auch hier doch schon nach unten“.

China exportiert bereits mehr Autos als Deutschland

Martin Götz sorgt sich um sein bayerisches Dorf. Dalia Marin gar ums ganze Land. „Deutschland steht vor einer Weichenstellung“, sagt die Professorin für internationale Wirtschaft an der School of Management der Technischen Universität München. „Die Frage ist: Werden die Auto-Industrie und der Maschinenbau zukünftig noch in Deutschland sein? Oder werden sie abwandern nach China? Diese beiden Sektoren sind die Schlüsselindustrien hierzulande.“ Bereits im letzten Jahr sei eine „historische Wende eingetreten“, so die Professorin: Erstmals habe China mehr Autos und mehr Maschinen exportiert als Deutschland. „Da muss man alarmiert sein!“

Um nichts weniger geht es bei Großprojekten wie dem Straßkirchener Batteriewerk. Ums große Ganze. Die Zukunft der deutschen Industrie. Die Wurst eben.

In Straßkirchen ist die Sache gut gegangen. Und es wäre nun wirklich eine fiese Laune des Schicksals gewesen, wenn ausgerechnet ein kleines bayerisches Dorf dafür gesorgt hätte, die Zukunft des urbayerischen BMW-Konzerns im Freistaat zu riskieren. Aber ein Straßkirchen ist eben nicht genug. Marin: „Wir brauchen in Deutschland die Ansiedlung eines Batteriezellen- und Halbleitersektors.“ Das sichere nicht nur den Fortbestand der Auto-, sondern auch der Metall- und Elektro-Industrie und anderer Branchen.

Und die Beispiele weiter unten zeigen ja: Es tut sich einiges. Zumeist aber auch begleitet von Protesten, Bürgerinitiativen – bauen ja, aber bitte woanders. Wie kann man das ändern? „Wir brauchen ein positives Narrativ“, sagt IW-Experte Hanno Kempermann. „Es muss deutlich werden, dass solche Großprojekte Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sichern.“ Und dass das Land abrutsche, wenn es seine in der Vergangenheit so erfolgreiche Industrie nicht ständig neu erfinde: „Wohlstand muss immer wieder neu erarbeitet werden.“

In Straßkirchen, Niederbayern, haben sie längst verstanden: Wir müssen was tun. Schließlich geht’s um die Wurst.

Transformation: Diese Bauprojekte braucht das Land

Deutschland baut an der Zukunft: Akku- und Chip-Fabriken für die E-Auto-Produktion, Stromtrassen für Ökostrom, LNG-Terminals für die Gasversorgung. Diese Projekte sollten Sie kennen.

  • LNG-Terminals zum Gasimport: In Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Lubmin lief es gut. In Rekordzeit wurden schwimmende Terminals installiert. Sie speisen Flüssigerdgas (LNG) von Tankern ins Netz. Weitere folgen in Stade, Wilhelmshaven, Mukran auf Rügen. Zusammen können sie 60 Prozent des früheren Gas-­Imports aus Russland ersetzen.
  • Tesla-Fabrik bei Berlin: Noch ein positives Beispiel. Seit März 2022 produziert das US-Unternehmen in Grünheide E-Autos. Das Werk ist für bis zu 500.000 Autos pro Jahr ausgelegt. Trotz Bürgerprotesten wurde es in zwei Jahren fertig. Tesla investierte 5,8 Milliarden Euro.
  • Batteriefabrik in Thüringen: In Arnstadt wird schon produziert. Das chinesische Unternehmen CATL stellt dort Batteriezellen für 200.000 E-Autos her. 1,8 Milliarden Euro hat CATL investiert.
  • Apple setzt auf Chip-Zentrum: Das ist ein Vorzeige-Projekt. Der US-Konzern Apple steckt 2 Milliarden Euro in sein Münchner Entwicklungszentrum. Das Unternehmen zählt die Ingenieurteams in der Landeshauptstadt zur Weltspitze.
  • Batteriefabrik von VW: VW liegt bei der neuen Fabrik voll im Zeitplan. Ende Juni begann der Aufbau der Maschinen und Anlagen. Noch produziert VW in Salzgitter Motoren, ab 2025 auch Batteriezellen. Motorschrauber lernen deshalb jetzt Hightech-Produktion. VW investiert 2 Milliarden Euro.
  • Chip-Fabrik in Sachsen-Anhalt: US-Hersteller Intel will in Magdeburg 30 Milliarden Euro in eine Giga-Fabrik investieren, steckt aber noch in der Warteschleife. Der Staat will den Bau mit 10 Milliarden Euro fördern. Erst aber muss die EU der Förderung noch zustimmen.
  • Batteriefabrik im Saarland: Das Projekt ist noch ziemlich am Anfang. In Überherrn will die chinesische Firma SVOLT Batteriezellen für etwa 400.000 E-Autos fertigen. Aber es gibt Bürgerproteste gegen den Bau.
  • Stromautobahn SuedOstLink: Die Bundesnetzagentur hat Ende September für eine Teilstrecke den vorzeitigen Baubeginn genehmigt. Die 540-Kilometer-Trasse soll ab 2027 Strom von Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt nach Altheim in Bayern liefern. Sie soll zwei Gigawatt Leistung transportieren. Netzbetreiber TenneT hat dafür bereits 300 Kabeltrommeln geordert. Die wiegen so viel wie drei Eiffeltürme (24.000 Tonnen). Gegen die Trasse gibt es Bürgerinitiativen.
  • Bahnstrecke zum Brennerbasistunnel: Der Bau des Tunnels soll mehr Güter im Alpentransit auf die Bahn bringen. Während die Zuführung in Österreich fertig ist, hat der Bau ab München nicht mal begonnen. Der Brennerbasistunnel soll 2032 fertig werden, die deutsche Strecke 2040. Das währt schon viel zu lange.
  • Stromautobahn SuedLink: Sie kommt mühsam voran. Ende Juli gab Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Südwesten den Startschuss für den Bau. Die 700 Kilometer lange Trasse wird vier Gigawatt Strom transportieren und so vier Kernkraftwerke ersetzen. Bei Leingarten (Baden-Württemberg) und Bergrheinfeld (Bayern) soll der Strom ab 2028 ins Netz fließen – mit sechs Jahren Verzögerung. Kostenpunkt: 10 Milliarden Euro.
Ulrich Halasz
aktiv-Chefreporter

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher. 

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Hans Joachim Wolter
aktiv-Redakteur

Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

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