Stuttgart. Deutschlands Wirtschaft: Was braut sich da zusammen? Viele Ökonomen und Wirtschaftsvertreter sehen schwarz – und prognostizieren eine Rezession. Davon spricht man, wenn die Wirtschaft in zwei aufeinanderfolgenden Vierteljahren schrumpft (jeweils im Vergleich zum Vorquartal). Maßstab dafür ist das Bruttoinlandsprodukt, das zuletzt stagnierte. Damit werde „eine Rezession immer wahrscheinlicher“, heißt es zum Beispiel beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

In Baden-Württemberg kühlt sich die Konjunktur sogar noch stärker ab als in Deutschland insgesamt, so Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Der Grund: die hohe Exportabhängigkeit des Bundeslandes. Eine Rezession entsteht meist aus einem Mix mehrerer Problemlagen, die mit ihren Wechselwirkungen zusammenspielen. aktiv erklärt, welche Faktoren unsere Konjunktur derzeit so ungewöhnlich stark gefährden.

Krieg und Energiekrise

Russlands Krieg in der Ukraine treibt die ohnehin schon hohen Energiepreise weiter nach oben, die Versorgungssicherheit ist in Gefahr. Das Problem trifft vor allem Deutschland mit voller Wucht. Laut Bundesverband der Deutschen Industrie befinden wir uns in der größten Energiekrise seit Bestehen der Bundesrepublik.

„Die Risiken für die deutsche und europäische Konjunktur durch fehlende Energierohstoffe bleiben sehr hoch.“

Wolfgang Niedermark, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung

China

Die strikte Null-Covid-Politik Chinas belastet die Lieferketten derzeit massiv. Denn sie sorgt dafür, dass Lieferungen nach und aus China blockiert und Werke in China lahmgelegt werden. Das Riesenreich selbst steckt entsprechend in der Krise. Als Motor der Weltwirtschaft fällt es also aus.

Auch der Taiwan-Konflikt ist potenziell gefährlich für die deutsche Wirtschaft und bereitet auch Unternehmen in Baden-Württemberg Sorge. Laut einer Studie des Münchner Ifo-Instituts würde ein Handelskrieg mit China Deutschland sechsmal so viel kosten wie der Brexit! Größter Verlierer wäre die hiesige Auto-Industrie mit einem Wertschöpfungsverlust von rund 8 Prozent, schätzen die Forscher.

„Bei einem Festhalten der chinesischen Regierung an der Null-Covid-Strategie ist auch mittelfristig nicht mit einer Entspannung der Lieferbeziehung zu rechnen.“

Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen

Materialknappheit

Die erhoffte Entspannung der Lieferketten verschiebt sich immer weiter nach hinten. In den Kernbranchen der deutschen Industrie bleibt die Situation kritisch – das ergab eine Umfrage des Ifo-Instituts. In Elektro-Industrie, Maschinenbau und Automobilbranche berichteten rund 90 Prozent der Unternehmen, dass sie nicht alle nötigen Materialien und Vorprodukte bekommen.

„Für die nächsten Monate gibt es keine Anzeichen einer deutlichen Erholung bei der Beschaffung wichtiger Werkstoffe.“

Klaus Wohlrabe, Ifo-Institut

Auftragsrückgang

Noch ist der Auftragsbestand in den Industriebetrieben hoch: Wegen des Teilemangels haben sich Aufträge angestaut. Aber der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik meldete Anfang August das größte Minus beim Auftragseingang seit Mai 2020. Schon seit Monaten ist hier ein Rückgang zu verzeichnen, denn allgemeine Unsicherheiten und hohe Preise bremsen die Kaufbereitschaft der Kunden.

„Die Auftragsbücher sind voll, weil die Unternehmen sie nicht abgearbeitet bekommen. Die Neubestellungen gehen aber zurück.“

Dr. Joachim Schulz, Vorsitzender des Arbeitgeberverbands Südwestmetall

Corona

Bringt der kommende Winter Corona-Einschränkungen zurück? Noch ist die Pandemie nicht überwunden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt vor einem schwierigen Corona-Winter. Für die Industrie in Baden-Württemberg heißt das: Sie muss mit Ausfällen vieler Beschäftigter rechnen, mit weiteren Einbrüchen in den Lieferketten – und auch damit, dass es erneut Pandemie-Auflagen gibt.

„Die Infektionszahlen werden im Herbst und Winter weiter zunehmen, wenn die Menschen wieder mehr drinnen sind.“

Hans Kluge, Regionaldirektor der WHO für Europa

Zinswende

Ende Juli hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins auf 0,5 Prozent angehoben, nachdem er jahrelang bei null lag. Weitere Erhöhungen werden aller Voraussicht nach folgen. Das Ziel der Zinswende: Die Inflation zu dämpfen. Für die Betriebe bedeutet das allerdings: Kredite für Investitionen werden teurer, damit wird also auch das potenzielle Wachstum etwas gedämpft.

„Das Eingreifen der EZB erhöht gleichzeitig das Rezessionsrisiko. Die Stagflation ist ein veritables Risiko in Europa.“

Thomas Obst, Senior Economist im Institut der deutschen Wirtschaft

Die Krise in Zahlen

  • 0,0 Prozent betrug das Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2022 – das deutsche Bruttoinlandsprodukt stagniert.
  • 195 Prozent teurer als im Juli 2021 war das Erdgas für die Industrie im Juli dieses Jahres.
  • 0,5 Prozent – um so viel sank die Industrieproduktion zwischen Juni 2021 und Juni 2022.
  • 1,9 Prozent wird die Wirtschaft in Baden-Württemberg 2023 laut LBBW-Prognose schrumpfen.
Barbara Auer
aktiv-Redakteurin

Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.

Alle Beiträge der Autorin
Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

Alle Beiträge der Autorin