Mannheim. Dass Deutschland nach wie vor stark von russischem Gas abhängt, ist bekannt. Jetzt zeigt sich zudem: Für kein anderes Industrieland ist der Handlungsdruck, davon loszukommen, so groß wie für uns.

Denn zum einen ist das Risiko, dass Lieferungen ausfallen, für die Bundesrepublik besonders akut. Und zum anderen sind die Energiepreise bei uns infolge von Putins Krieg stärker und höher gestiegen als anderswo.

Zwei Hauptgründe für unsere Energie-Probleme

Dies sind die unerfreulichen Befunde einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW. Die Mannheimer Experten haben für die Stiftung Familienunternehmen 16 EU-Staaten sowie die USA, Japan, Kanada, Großbritannien und die Schweiz einer Risikenanalyse unterzogen. Warum Deutschland bei Putins Energie-Poker schlechte Karten hat, wird überdeutlich:

  1. Gasversorgung: Kaum ein europäisches Land ist auch nur annähernd so verwundbar wie Deutschland, wenn Russland nicht so viel Gas liefert wie vereinbart. Zwar haben einige osteuropäische Staaten und auch Österreich auf den ersten Blick ein noch höheres Ausfallrisiko als wir. Doch deren Energiehunger ist längst nicht so groß wie unserer – und sie können die nötigen Energiemengen schneller ersetzen, indem sie auf andere Quellen ausweichen.
  2. Preisanstieg: „Die Preisanstiege bei Gas und auch Strom sind weitgehend auf europäische Standorte beschränkt“, erklärt Studienautor Professor Friedrich Heinemann. Und erneut ist es ausgerechnet Deutschland, das besonders betroffen ist. Ähnlich dramatisch wie bei uns ist der Energiepreis-Auftrieb nur in den Niederlanden. „Beide Länder entwickeln sich immer mehr zu einer Hochpreisinsel“, sagt Heinemann. Bei uns und in unserem Nachbarland waren die Energiepreise nämlich schon vor dem Einmarsch in die Ukraine höher als anderswo. Zuletzt hat sich der Kostennachteil noch weiter verschärft, weil sich die Strompreise in den allermeisten anderen europäischen Ländern einigermaßen im Rahmen gehalten haben.
    Was den Import von russischem Gas angeht, haben einige osteuropäische Länder auf den ersten Blick ein noch höheres Ausfallrisiko als Deutschland. Doch sie beziehen längst nicht so große Mengen wie wir – und können diese auch schneller ersetzen.

    Letztlich ist nur Italien laut ZEW ähnlich gekniffen wie Deutschland. Praktisch überhaupt nicht gefährdet ist dagegen die Versorgungssicherheit der USA, von Japan und Kanada: Alle drei Überseeländer haben zwar genau wie wir einen hohen Energieverbrauch. Aber sie haben – anders als wir – zuverlässige Bezugsquellen. Auch Großbritannien bescheinigen die Mannheimer Forscher ein nur minimales Lieferrisiko aufgrund der Abhängigkeit von unzuverlässigen Förderländern.

    Vor allem in der Schweiz, die traditionell stark auf Wasserkraft baut, bewegte sich laut ZEW preislich nur wenig. Auch in Skandinavien lebte es sich beim Blick auf die Strompreise zumeist entspannter als bei uns. Ebenfalls recht gelassen bleiben konnten die drei großen außereuropäischen Staaten: Bei ihnen sind die kriegsbedingten Preissteigerungen bislang „ausgesprochen moderat ausgefallen oder ganz ausgeblieben“, heißt es in dem ZEW-Papier. 

    94 des Erdgases in Deutschland werden importiert. Aus Russland kamen zuletzt 35 Prozent.

    Unterm Strich stellen die Mannheimer Experten Deutschland ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis in Sachen Energieversorgung aus: Verglichen mit anderen Ländern seien wir auf einen Gaslieferstopp schlechter vorbereitet. „Die Bundesrepublik weist eine besondere Verwundbarkeit für eine weitere Eskalation der Energiekrise auf – und sie war beim Energiebezug auch schon vor Beginn des Krieges besonders verletzlich“, so Friedrich Heinemann.

    Engpässe könnten Süden und Osten besonders treffen

    Klar ist inzwischen außerdem: Mögliche Gas-Engpässe im Winter könnten sich im Bundesgebiet ganz unterschiedlich bemerkbar machen. Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, unterstreicht: „Ein akuter Gasmangel kann auch regional begrenzt auftreten, und Lieferungen aus anderen Teilen Deutschlands werden aufgrund des Leitungsnetzes nicht immer möglich sein.“ Insbesondere der Osten und der Süden Deutschlands könnten von einem zu geringem Gas-Nachschub aus Russland zuerst betroffen sein.

    Hintergrund: Das bundesweite Netz von Gas-Fernpipelines ist rund 40.000 Kilometer lang. Doch es kann Gas nicht von überallher gleich schnell und in denselben Mengen fließen lassen: Es ist nämlich vor allem auf eine Verbreitung von Osten nach Westen ausgelegt. Umgekehrt bestand lange keine Notwendigkeit.

    2 bis 3 Monate beträgt die Winter-Reichweite der deutschen Gasspeicher nach Vollbefüllung.

    Selbst wenn also etwa in Niedersachsen Überschüsse vorhanden wären – schon technisch sind die Möglichkeiten einer Umleitung nach Baden-Württemberg oder Bayern bislang begrenzt. Der Süden hat zudem nicht genug eigene Gasspeicher, um dieses Manko auszugleichen. Das gilt gerade auch für Bayern. Darauf wies zuletzt unter anderem der Chemieverband VCI hin.

    Fest steht: Es muss etwas geschehen, damit Deutschland seine Versorgungs- und Preisprobleme bei der Energie in den Griff bekommt. Die Unternehmen tun allerdings schon viel, um Energie zu sparen und um von fossilen Brennstoffen loszukommen, räumt das Mannheimer ZEW ein. In der Pflicht sei jetzt vor allem die Wirtschafts- und Energiepolitik, betont Studienautor Heinemann: „Sie muss Antworten auf die Frage finden, wie die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insbesondere für energieintensive Unternehmen erhalten werden kann.“ 

    Hohe Energiepreise bedrohen Produktion

    Fakten zu den Folgen der hohen Energiepreise für die Industrie zeigt eine Firmenumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) – der Energiewendemonitor 2022.

    • Produktion zurückfahren wegen hoher Energiepreise – dazu ist inzwischen jedes sechste Industrieunternehmen gezwungen. Bei den energieintensiven Betrieben ist es sogar fast jeder Dritte.
    • Den Verlust ihrer Wettbewerbskraft befürchten fast zwei Drittel der Betriebe.
    • Die Preis- und Lieferrisiken sind hoch. Über ein Drittel der Firmen muss mehr als 30 Prozent ihres Gasbedarfs 2022 erst noch einkaufen.
    • Den Gasbedarf 2022 gedeckt hat zur Jahresmitte erst die Hälfte der Betriebe.
    Stephan Hochrebe
    aktiv-Redakteur

    Nach seiner Redakteursausbildung absolvierte Stephan Hochrebe das BWL-Studium an der Universität zu Köln. Zu aktiv kam er nach Stationen bei der Funke-Mediengruppe im Ruhrgebiet und Rundfunkstationen im Rheinland. Seine Themenschwerpunkte sind Industrie und Standort – und gern auch alles andere, was unser Land am Laufen hält. Davon, wie es aussieht, überzeugt er sich gern vor Ort – nicht zuletzt bei seiner Leidenschaft: dem Wandern.

    Alle Beiträge des Autors