Stuttgart. In letzter Zeit schienen die Meldungen von der Konjunkturfront Entwarnung zu geben: Es wird doch nicht so schlimm – die Stimmung in der Wirtschaft bessert sich. Also alles gut?

Leider nein, sagen führende Ökonomen: 2022 sind wir zwar knapp einer Rezession entgangen und in manchen Branchen lassen die Materialengpässe nach, aber die Krise ist noch nicht durchgestanden. Nach wie vor gibt es große Ungewissheiten in Sachen Lieferketten und Energie. Und gerade das exportstarke Baden-Württemberg spürt die Wirkung globaler Entwicklungen, die die Unternehmen kaum beeinflussen können. Das meinen drei Wirtschaftsexperten dazu:

„Es gibt kleine Lichtblicke, aber noch große Fragezeichen."

Professor Michael Grömling, Institut der deutschen Wirtschaft:

2022 haben uns die Nachholeffekte beim Konsum nach der Coronakrise erstaunlich gut über die Runden geholfen, durch die Inflation werden diese aber nun gedämpft. Zudem hat sich der geopolitische und geoökonomische Rahmen für deutsche Unternehmen durch den russischen Angriff auf die Ukraine erheblich verändert. Deshalb sind die Unternehmen mit sehr großer Vorsicht in dieses Jahr gestartet. Die größten Fragezeichen sind Energiesicherheit und Materialverfügbarkeit.

Vor einer Energiemangellage hat uns der relativ milde Winter bisher bewahrt, und in den globalen Lieferketten zeichnet sich momentan eine Entspannung ab. Wenn sich die Lage aber wieder verschlechtert, müssen wir mit einer Rezession rechnen. Im besten Fall erleben wir eine Stagnation.

Die Abkühlung der globalen Konjunktur dämpft die Nachfrage aus dem Ausland

Die Metall- und Elektro-Industrie (M+E) ist besonders betroffen, weil sie material- und energieintensiv arbeitet und hohe Kosten zu schultern hat. Eine sichere Energieversorgung ist für viele Unternehmen zum Überlebensthema geworden. Außerdem dämpft die Abkühlung der globalen Konjunktur die Nachfrage nach Produkten made in Germany – die hauptsächlich aus der M+E-Industrie kommen. Und es bleibt abzuwarten, ob die Pandemie in China nicht wieder zu Belastungen der Lieferketten führt.

Ein kleiner Lichtblick ist die Eröffnung des LNG-Terminals in Wilhelmshaven, zumal es in kurzer Zeit fertiggestellt wurde. Das reicht zwar bei Weitem nicht aus, um die Gaslieferungen aus Russland zu ersetzen, ist aber ein positives Signal, dass wir auf andere Lieferquellen zugreifen können.

Wann Industrie und Verbraucher mit einer Entspannung bei der Inflation rechnen können, ist im Moment nicht abzuschätzen. Es hängt davon ab, wie es mit dem Krieg in der Ukraine weitergeht.

„Im zweiten Halbjahr dürfte sich die Lage entspannen."

Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg:

Die aktuelle Stimmung in der baden-württembergischen Industrie hat sich zum Jahresende wieder etwas aufgehellt. Die geringere Gefahr einer Gasmangellage und die Hoffnung auf ein baldiges Ende der massiven Preisanstiege dürften hierbei eine übergeordnete Rolle spielen.

Aber nicht nur die Erwartungen der Unternehmen, sondern auch die der Konsumenten haben sich zuletzt verbessert. Dieses Stimmungsbild deckt sich mit unserer Einschätzung der Lage. Zum Glück waren wir mit unseren Prognosen von 2022 zu pessimistisch. Die wirtschaftliche Entwicklung ist besser, als von uns letztes Jahr erwartet. Die Bauwirtschaft wird zwar wegen der stark gestiegenen Zinsen, der Materialkosten und des Fachkräftemangels belastet. Auch der staatliche Konsum dürfte aufgrund der auslaufenden Coronahilfen geringer ausfallen. Dafür besteht weiterhin ein gewisses Auftragspolster in der Industrie.

Um 0,9 Prozent könnte die Wirtschaft in Baden-Württemberg schrumpfen

Zumindest im ersten halben Jahr dürften wir aber dennoch rezessive Tendenzen erleben. Im zweiten Halbjahr dürfte sich die Lage entspannen. Wir erwarten, dass die Wirtschaft in Baden-Württemberg 2023 um 0,9 Prozent schrumpft, also etwas stärker als in Deutschland insgesamt mit minus 0,5 Prozent.

Die Exporte dürften sich aufgrund einer besseren Lage der Weltwirtschaft und vor allem der Öffnung Chinas nach dessen Abkehr von der Null-Covid-Politik erholen. Gleichzeitig gibt es aber für 2023 und 2024 auch Fragezeichen zuhauf, die die Prognosen mit Unsicherheiten behaften: So könnte sich die Gasmangellage nächsten Winter wieder verschärfen. Und wie der Ukraine-Krieg sich entwickeln wird, ist nicht zu prognostizieren. Alles in allem wartet auch 2023 für die Unternehmen mit großen Herausforderungen auf.

„Die Energiekosten der Industrie sind hierzulande besonders hoch."

Professor Winfried Golla, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie Baden-Württemberg und Co-Vorsitzender des Ausschusses für Energie und Umwelt beim Dachverband Unternehmer Baden-Württemberg (UBW):

Die Politik muss weiterhin alle Hebel in Bewegung setzen, um die Versorgungssicherheit mit Energie und deren Bezahlbarkeit zu sichern. Wenn ein großer Produzent seine Preise erhöhen muss, um die explodierten Energiepreise auszugleichen, dann steigen die Kosten auch weiter in der Wertschöpfung.

Bereits am Anfang der Kette, bei der Grundstoffchemie, entsteht großer Druck durch massive Preiserhöhungen. Dies spiegelt sich dann in der gesamten Wertschöpfungskette wider.

Weiter hinten in der Kette, beispielsweise beim kunststoffverarbeitenden Mittelstand, wird es immer schwieriger, die Kosten weiterzugeben. Da drohen unter Umständen auch Unternehmen aus dem Markt zu gehen, weil sie die Kosten nicht mehr stemmen können. Und dann fehlen deren Produkte woanders, beispielsweise in der Metall- und Elektro-Industrie: Die Unternehmen der Chemiebranche in Baden-Württemberg liefern zu fast 30 Prozent in den Fahrzeugbau.

Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie

Wir müssen deutlich stärker als die Unternehmen in vielen anderen Chemie- und Pharmaregionen in der Welt um unsere Wettbewerbsfähigkeit kämpfen. Aber das macht uns das Umfeld, gerade auch die Politik im Moment, nicht einfach. Die Energiepreisbremsen waren ein guter Ansatz – aber schlecht umgesetzt: Denn die Hürden, um sie in Anspruch zu nehmen, sind für Unternehmen zum Teil sehr hoch.

Die Gasversorgung muss dauerhaft sicher sein, indem der Bezug diversifiziert wird. Alle verfügbaren Kohle- und Kernkraft-Kapazitäten sollten bis Frühjahr 2024 am Strommarkt teilnehmen können, um die Gasverstromung zu reduzieren. Auch beim langfristigen Strommarktdesign muss Versorgungssicherheit ein Kernelement sein.

Die stromintensive Transformation der Industrie hin zur Treibhausgasneutralität erfordert sehr viel und günstigen erneuerbaren Strom. Gleichzeitig muss der Ausbau der erneuerbaren Energien so kosteneffizient wie möglich gestaltet werden.

Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

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Barbara Auer
aktiv-Redakteurin

Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.

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