Nürnberg. Ein Platz im Leben – dazu gehört auch eine sinnvolle Arbeit. Für Menschen mit Behinderung ist die Teilhabe besonders wichtig. Inklusion ist das Zauberwort, um ihnen die Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu erleichtern. Das zahlt sich aus, für beide Seiten. Fach- und Arbeitskräfte sind mehr denn je gefragt – und jeder hat Talente!
„Es geht darum, bewusst Begabungen und Fähigkeiten zu fördern und Barrieren abzubauen“, so Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw). Das geschieht schon an vielen Stellen. Auch in den Betrieben der Metall- und Elektro-Industrie (M+E) ist Inklusion bereits gelebter Alltag.
Mit Lernschwäche im Ersatzteilversand
Etwa bei ZF in Passau. Zweimal erhielt der Technologiekonzern Bayerns Inklusionspreis „Job Erfolg“. Der Schwerbehindertenanteil im Betrieb beträgt rund 8 Prozent, weit mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Quote von 5 Prozent für Unternehmen dieser Größe. „Es ist für uns selbstverständlich, Menschen mit Handicap eine Chance zu geben“, sagt Markus Streibl, Personalleiter der Division Industrietechnik.
ZF schuf bereits zahlreiche inklusive Arbeitsplätze. Am Standort in Niederbayern sind rund 350 Schwerbehinderte beschäftigt. So kam etwa eine junge Frau mit Lernschwäche ins Unternehmen. Sie hilft jetzt, pünktlich Ersatzteile weltweit zu verschicken. Auch einem Monteur, der eine schwere Krebserkrankung überwunden hat, ebnete ZF den Weg zurück ins Arbeitsleben. Der Mitarbeiter wechselte ins Teilelager, wo die Arbeit körperlich weniger anstrengend ist. Er ist mittlerweile gesund, ging kürzlich in Rente.
Vorurteile bekämpfen und die Vielfalt als Chance begreifen, darum geht es Personalleiter Streibl beim Thema Inklusion im Betrieb. Und noch eins ist da wichtig: Bei der gemeinsamen Arbeit im Team entstehen vielfach Freundschaften und es wächst gegenseitiger Respekt.
Querschnittgelähmt nach einem Unfall mit dem Mountainbike
Das ist auch Matthias Neubauer wichtig. Der 32-Jährige arbeitet in der Abteilung „Corporate Communications“ beim Maschinen- und Anlagenbauer BHS Corrugated in Weiherhammer (Oberpfalz). Seit einem Sturz mit dem Mountainbike vor zehn Jahren ist Neubauer querschnittgelähmt.
„Der Alltag mit Rollstuhl ist für mich inzwischen ganz normal“, sagt der gelernte Industriekaufmann. Und so will er auch behandelt werden, ganz normal. Da hilft das moderne Gebäude, alles ist darin barrierefrei. „Ich kann mich hier frei bewegen“, sagt Neubauer. Und die paar Stufen vom Büro ins firmeneigene Fitnessstudio überwindet ein Plattformlift.
Selbst in der Fertigung kommt er überallhin. Denn dort wird sowieso viel hin- und hertransportiert, deshalb gibt es auch keine Schwellen am Boden, die ein Hindernis für den „Rolli“ wären.
Unverkrampft und offen, so geht Neubauer mit seiner Behinderung um. Häufig stößt er selbst die Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen an: „Sie dürfen alles fragen.“ Erzählt jemand vom Fußballturnier am Wochenende, sagt er: „Ich spiel übrigens Basketball.“ „Wie jetzt?!“, kommen dann die Fragen: „Sind die Körbe da gleich hoch?“ „Ja!“
Neubauer geht nach wie vor gern auf Open-Air-Konzerte (Lieblingsband: Iron Maiden). Er fährt wieder Mountainbike, ein geländegängiges mit Handbetrieb. „Damit komm ich an Orte im Wald, von denen ich nicht dachte, dass ich sie je wieder besuchen kann.“ Neubauer will keine Extras, die braucht es auch nicht, obwohl er der erste „Rolli-Fahrer“ im Betrieb ist. „Andere Firmen machen sich einen Kopf, bevor sie Behinderte einstellten“, sagt er. „Sie sehen oft Schwierigkeiten, wo es am Ende gar keine gibt.“ Für BHS Corrugated jedenfalls war sein Handicap von Anfang an kein Hindernis.
Gehörlos seit einer Mumps-Erkrankung als Kind
Unterm Strich gibt es viele Arbeitgeber, die sich für Inklusion engagieren. Bundesweit finden Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen einen passenden Platz in der M+E-Industrie. Etwa Christina Kraft (44). Sie ist Montagemitarbeiterin beim Sanitärhersteller Hansgrohe in Süddeutschland. „Es ist toll, dass man mir diese Chance gegeben hat“, so Kraft. Seit sie im Alter von drei Jahren Mumps hatte, ist sie gehörlos.
Für Gehörlose wie sie ist es nicht einfach, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Schon beim Vorstellungsgespräch braucht es einen Übersetzer. Doch Hansgrohe war offen dafür, sie einzustellen, obwohl es „Neuland“ für die Firma war. Einige organisatorische Dinge mussten umgestellt werden, wichtige Informationen etwa bekommt Kraft schriftlich. Der Feueralarm kommt direkt aufs Handy. Im Gespräch kann sie von den Lippen ablesen, zudem gibt’s Unterstützung von einer Gebärdendolmetscherin.
Für die zweifache Mutter bedeutet der Job, ein eigenes Einkommen zu haben und auf eigenen Füßen zu stehen. Auch ohne Hörsinn möchte sie am ganz normalen Leben teilhaben.
In der Unternehmensstrategie ist Inklusion fest verankert
Hansgrohes Personalvorständin Sandra Richter ist davon überzeugt, dass Mitarbeitende gerade dank ihres Andersseins voneinander profitieren. Für Hansgrohe als international tätiges Unternehmen mit rund 5.600 Mitarbeitenden weltweit gelten Vielfalt und Inklusion als unerlässliche Elemente für den Erfolg: Das Thema „Diversity, Equity & Inclusion“ ist daher in der Unternehmensstrategie verankert.
Verschiedene Projektteams und Netzwerke treiben Vielfalt und Inklusion im Unternehmen konsequent voran. So werden Strukturen und Prozesse entsprechend verändert und Wissen auf-und ausgebaut. Richter erklärt: „Wir nutzen bereits zahlreiche Möglichkeiten der Inklusion, die sich uns von der barrierefreien Gestaltung der Arbeitsumgebung bis hin zu individuellen Hilfsangeboten bieten. Auch deshalb, weil uns diese Maßnahmen als Arbeitgeber attraktiver machen.“
Mit Empathie kann viel bewegt und verbessert werden
Die politisch vor kurzem beschlossene Erhöhung der Ausgleichsabgabe stelle daher keinen zusätzlichen Anreiz für die Einstellung weiterer Menschen mit Schwerbehinderung dar. Hilfreich seien jedoch staatliche Angebote wie die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA), die Betriebe in Kontakt mit geeigneten Bewerbern mit Schwerbehinderung bringen.
Katrin Edinger, Consultant Diversity & Inclusion bei Hansgrohe, fügt hinzu: „Für mich persönlich sind Diversität und Inklusion ein Herzensthema. Und ich bin mir bewusst: Veränderungen nehmen ihren Anfang stets bei einem selbst! Das eigene Denken und Handeln zu reflektieren, ist unverzichtbar. Zuhören, empathisch sein, dazulernen –so kann viel bewegt und verbessert werden.“
Im Rollstuhl nach dem Schlaganfall
Wegen ihrer Behinderung nicht mehr zu arbeiten, ist für Silke Schenk ebenfalls keine Option – trotz Querschnittlähmung. Die ist die Folge eines Schlaganfalls im Rückenmark im Jahr 2015. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl. Ihr Arbeitgeber, der Filterhersteller Mann+Hummel in Ludwigsburg, hielt an ihr fest. „Meine damalige Chefin besuchte mich nach ihrem Urlaub im Krankenhaus, direkt vom Flughafen, und auch später sehr oft“, so Schenk. Auch viele Kollegen kamen und machten ihr Mut. Den brauchte sie, denn der Schlaganfall hatte ihr erst mal den Boden unter den Füßen weggezogen. Heute sagt sie: „Eigentlich ist mein Leben ganz normal, nur bewege ich mich eben nicht auf meinen Füßen, sondern auf Rädern.
Dazu haben etliche Änderungen und Umbauten beigetragen, die Mann+Hummel für sie unternahm. So wurde der Bodenbelag in den Büros ausgetauscht. Früher lag dort ein Hochflorteppich. Der schluckt zwar schön den Schall, aber ein Rolli bleibt darin hängen. An der Treppe wurde ein Plattformlift installiert, der mit Rollstuhl befahrbar ist. „Der hat leider manchmal gestreikt. Dann haben mich meine Kollegen buchstäblich auf Händen die Treppe hochgetragen“, berichtet Schenk gerührt. Inzwischen ist ihr Arbeitsplatz in einem anderen Gebäude, wo es einen Aufzug gibt.
Normalität ist für Menschen mit Behinderung besonders wichtig
Für Silke Schenk bedeutet es enorm viel, ganz normal arbeiten zu können. Genau diese Normalität sei für Menschen in ihrer Situation besonders wichtig, sagt sie und betont: „Im Rollstuhl arbeite ich ja nicht schlechter als vorher.“
Bei Mann+Hummel ist sie übrigens schon sehr lange: 1995 begann sie in dem Unternehmen ihre Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation, danach war sie erst zwei Jahre im Vertrieb und kam dann in den Personalbereich, wo sie heute noch arbeitet. Seit zwei Jahren setzt sie sich als Inklusionsbeauftragte mit viel Herzblut für das Thema ein: Mit der firmeninternen Aktion „Inklusion erleben“ sensibilisiert sie die Kollegen, führt viele Gespräche. „Das Thema ist mir eine Herzensangelegenheit“, sagt Schenk. „Je normaler es wird, desto besser.“
Barrieren abbauen
- 10,4 Millionen Menschen haben in Deutschland ihre Behinderung amtlich anerkennen lassen.
- Diese Menschen können einen spürbaren Beitrag zur Sicherung des steigenden Fach- und Arbeitskräftebedarfs leisten.
- 90 Prozent aller Behinderungen werden durch eine Krankheit verursacht, sind zum Beispiel im Lauf des Lebens erworben. Nur 3 Prozent sind angeboren.
- Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte sind gut qualifiziert. 4,9 Millionen von ihnen sind im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. Sie werden am Arbeitsmarkt dringend gebraucht.
- Viele Unternehmen sind offen für die Einstellung behinderter Menschen und engagieren sich in besonderem Maße gerade für diese Mitarbeitenden. Damit übernehmen die Betriebe eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.
- 1.100.000 Schwerbehinderte sind in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt.191.000 Schwerbehinderte stehen in Bayern in einem Arbeitsverhältnis – gut ein Drittel mehr als noch 2010.
- Eine Lotsenfunktion haben die neu geschaffenen Einheitlichen Ansprechstellen. Sie informieren, beraten und unterstützen Arbeitgeber bei Fragen rund um das Thema Inklusion.
Quellen: REHADAT, BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018, Bundesagentur für Arbeit 2021
REHADAT - Informationen zur beruflichen Teilhabe
Mit 14 Portalen, zahlreichen Publikationen, Apps, Videos und Podcasts informiert REHADAT umfangreich zur beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
In den REHADAT-Portalen finden Betroffene, Arbeitgeber und Interessierte schnell fundierte Informationen zu allen wichtigen Aspekten der beruflichen Teilhabe: Hilfsmittel, Praxisbeispiele, Förderung, Urteile, Adressen, Literatur, Forschungsprojekte, Statistiken, Werkstätten, Ausgleichsabgabe und Bildung.
Die Informationen richten sich an Betroffene und alle, die sich für ihre berufliche Teilhabe einsetzen. Alle Angebote sind barrierefrei und kostenlos zugänglich. Über die zentrale Einstiegsseite www.rehadat.de können alle Inhalte aufgerufen werden.
REHADAT ist ein Projekt des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Friederike Storz berichtet für aktiv aus München über Unternehmen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Die ausgebildete Redakteurin hat nach dem Volontariat Wirtschaftsgeografie studiert und kam vom „Berliner Tagesspiegel“ und „Handelsblatt“ zu aktiv. Sie begeistert sich für Natur und Technik, Nachhaltigkeit sowie gesellschaftspolitische Themen. Privat liebt sie Veggie-Küche und Outdoor-Abenteuer in Bergstiefeln, Kletterschuhen oder auf Tourenski.
Alle Beiträge der AutorinAls Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.
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