Berlin. Arbeit wird immer teurer in Deutschland. Der Grund: die steigenden Lohnnebenkosten, also die Beiträge für Rente, Arbeitslosenversicherung, Krankenkasse und Pflege. Susanne Wagenmann, Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung in der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), sieht darin ein wachsendes Problem – für Beschäftigte und Betriebe.

Welche Veränderungen bei den Sozialbeiträgen stehen 2023 an?

Wir erwarten Beitragssatzsteigerungen in gleich mehreren Zweigen der Sozialversicherung: Zum einen klettert der Zusatzbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung um 0,3 Prozentpunkte, der Satz bei der Arbeitslosenversicherung steigt um 0,2 Punkte. Und auch die Beiträge zur Pflegeversicherung werden steigen müssen. Wir erwarten eine Anhebung um voraussichtlich 0,3 Beitragssatzpunkte. Alles zusammen ergibt das dann rund 10 Milliarden Euro mehr Belastung für die Beitragszahlenden.

Unterm Strich entrichten Arbeitgeber und Arbeitnehmer dann zusammen fast 41 Prozent an Sozialabgaben – das ist jenseits der klassischen „roten Linie“ von 40 Prozent.

Und es ist sehr wahrscheinlich, dass es dabei nicht bleibt. Die Beitragssätze könnten schon bis zum Ende der Legislaturperiode auf 43 Prozent steigen, bis 2040 sogar auf rund 50 Prozent. Das prognostizieren unterschiedliche Studien, zum Beispiel die des Wirtschaftsweisen Martin Werding.

Welche Folgen hat es für Beschäftigte, wenn die Sozialversicherungen immer mehr kosten?

Aus unserer Sicht gravierende. In kaum einem anderen Land werden Löhne und Gehälter so stark mit Abgaben belastet wie in Deutschland.

Aber hinkt der Vergleich mit anderen Ländern nicht? Viele finanzieren ihre Sozialsysteme doch über Steuern und nicht über Beiträge.

Das ist richtig. Aber auch wenn man die Belastung mit Steuern hinzurechnet: Der Abgabenkeil zwischen Brutto und Netto ist im Vergleich in kaum einem anderen Land so groß wie bei uns.

Was bedeutet das für Betriebe?

Hohe Lohnzusatzkosten schwächen ihre Wettbewerbsposition im internationalen Vergleich – und damit auch die des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Zudem werden Investitionen im Ausland attraktiver, wenn dort die Standortbedingungen eine vorteilhaftere Ausgangslage versprechen. Deshalb sagen wir: Wer Jobs in Deutschland erhalten und neue schaffen will, darf den Faktor Arbeit nicht noch weiter verteuern.

Das ist leicht gesagt, bei steigenden Ausgaben etwa für Pflege und Gesundheit, die in unserer alternden Gesellschaft ja absehbar sind. Welche Lösungen schlagen Sie vor?

Aus unserer Sicht brauchen wir dringend nachhaltige und ausgabensenkende Strukturreformen! Grundsätzlich in allen Zweigen der Sozialversicherung, aber ganz besonders in der Kranken- und Pflegeversicherung. Hier muss die Versorgung effizienter werden. Zum Beispiel, indem wir die Krankenhauslandschaft konsolidieren und die Sektorengrenzen – also die oft unsinnige Trennung von ambulant und stationär – überwinden. Darüber hinaus müssen wir die Eigenverantwortung ausbauen und die Digitalisierung vorantreiben.

Was ist mit der Rente?

Auch wenn die Beitragssätze hier wohl bis 2026 stabil bleiben – danach werden sie voraussichtlich wegen des demografischen Wandels auch bei der Rente steigen. Das wird zu hohen Belastungen führen. Deshalb glauben wir, dass man auch über die Anpassung des Renteneintrittsalters diskutieren muss. Das darf kein Tabu sein!

Diese Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung sind unter Expertinnen und Experten schon sehr lange bekannt. Warum reagiert die Politik so träge?

Aus meiner Sicht gibt es kein Erkenntnisproblem. Überall gibt es Sachverständigenräte und wissenschaftliche Beiräte. Und wenn man sich deren Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre ansieht, kommen eigentlich alle zu demselben Schluss. Das Problem ist: Reformen in Sozialversicherungszweigen sind sehr komplex – und sie brauchen Zeit, um zu wirken. Aber gerade deswegen müssen wir jetzt dringend an sie heran!

Wie wollen Sie diesen Wandel anstoßen?

Zuallererst müssen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie schwierig die Lage ist und dass es Belastungsgrenzen gibt. Beim Klima ist die Sache klar: Das 1,5 Grad-Ziel beim Klima ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt – jeder weiß, dass wir Nachhaltigkeit in Bezug auf unsere Umwelt brauchen. Beim Thema soziale Sicherung gibt es ein solches langfristiges Denken und entsprechende Projektionen dagegen noch nicht. Wir brauchen ein griffiges Nachhaltigkeitsziel für die Sozialversicherung!

Im Rentenversicherungsbericht wird immerhin jedes Jahr vorausberechnet, wie sich die Beiträge entwickeln werden.

Das ist richtig und auch gut so! Aber warum machen wir nicht eine Nachhaltigkeitsberichterstattung für alle Sozialversicherungszweige, mit Vorausberechnungen für 10 bis 15 Jahre in die Zukunft? So würden Öffentlichkeit und Politik regelmäßig sensibilisiert, wie sich der Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz entwickelt. Und es würde ein Bewusstsein entstehen, wie notwendig Reformen sind.

Michael Aust
aktiv-Redakteur

Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band. 

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