Die Europawahl am 9. Juni ist ein Urnengang in unruhigen Zeiten. Folge der vielen Krisen, die seit Jahren aufeinander folgen: eine erschöpfte Gesellschaft – sinkendes Vertrauen darin, dass die demokratischen Institutionen das alles in den Griff kriegen. Doch was wären wir eigentlich ohne die EU? aktiv hat das Professor Michael Hüther gefragt, den Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft.

Inwiefern profitiert unser Land von der Mitgliedschaft in der EU?

Was einst als Friedensprojekt begann, sichert nach 70 Jahren unverändert politische Stabilität, Demokratie sowie Rechtsstaatlichkeit. Daneben stand auch immer die wirtschaftliche Stärkung im Fokus. Durch den Abbau von Handelsschranken, den Binnenmarkt und die gemeinsame Währung wurde das Wachstum nachhaltig gestärkt. Der Größeneffekt der EU wirkt sowohl wirtschaftlich durch den Binnenmarkt als auch politisch durch die internationale Verhandlungsmacht.

Die EU hat also eine große Bedeutung für unsere Wirtschaft?

Ja. Die EU bietet einen stabilen Rahmen für Handel und Wachstum und trägt so zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sowie des wirtschaftlichen Erfolgs der deutschen Industrie bei. Die EU ist unser wichtigster Absatzmarkt. Mehr als die Hälfte aller deutschen und bayerischen Exporte entfallen auf EU-Mitgliedsländer. Davon profitieren neben den exportierenden Unternehmen selbst auch deren Zulieferer – und all diejenigen, die am Konsum der Industriebeschäftigten verdienen.

Sie sprachen den EU-Binnenmarkt an. Welche Vorteile bietet er?

Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes – der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen – sind fester und unverzichtbarer Bestandteil unserer heutigen Wirtschaft und Gesellschaft. Die Vorteile sind vielfältig. Zum einen haben deutsche Unternehmen dadurch Zugang zu fast 450 Millionen Verbrauchern. Gleichzeitig ermöglicht die Freizügigkeit einen reibungslosen Handel und flexiblen Arbeitsmarkt. Das kann bei der Bewältigung des Fachkräftemangels helfen. Ein ambivalenter Aspekt des Binnenmarktes sind die einheitlichen Regulierungen, Standards und Normen: Sie sind für den reibungslosen Handel notwendig, bergen jedoch die Gefahr einer übermäßigen Bürokratisierung. Die sollte vermieden werden.

Manche Parteien fordern einen Austritt aus der EU. Was hätte das für Folgen?

Die Mitgliedschaft in der EU ist zwar mit Kosten verbunden, nicht in der EU zu sein, wäre aber vielfach teurer und hätte existenzielle Risiken. Gerade Deutschland als hochintegrierter Wirtschaftsstandort würde bei einem Austritt gravierende Schäden davontragen. Bereits nach fünf Jahren würde das Wirtschaftswachstum um 5,6 Prozent geringer ausfallen. Der Verlust wäre vergleichbar mit dem der Corona- und Energiekrise zusammen. Der BRD würden so 690  Milliarden Euro Wertschöpfung und rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen.

Weshalb ist es auch politisch wichtig, dass wir zur EU gehören?

In Zeiten geopolitischer Unsicherheit ist es für Deutschland von großer Bedeutung, Mitglied in der EU zu sein, da dies wirtschaftliche und politische Stabilität gewährleistet. Die EU bietet auch eine Plattform für politische Koordination und Verhandlungsmacht auf internationaler Ebene. Insbesondere in unstetigen Zeiten dienen die standort­relevanten Vorteile der EU als Stabilitätsanker: etwa die stabilen politischen Institutionen und die engagierte und im Gegensatz zu den USA weniger stark polarisierte Zivilgesellschaft. Diese gilt es zu bewahren und auszubauen.

Es gibt auch immer wieder Kritik an der EU. Wo liegt noch Verbesserungsbedarf?

Die EU muss ihre Potenziale vermehrt ausschöpfen und ihre Schwächen nachhaltig adressieren. In bestimmten Politikbereichen sollten die EU-Kompetenzen und Ausgaben überprüft werden, etwa die Gemeinsame Agrarpolitik, die einen Großteil des EU-Haushaltes verschlingt. Gleichzeitig wäre es vorteilhaft, eine fokussierte Kooperation bei Schlüsselthemen voranzutreiben, wie in der Verteidigungspolitik und bei Investitionen in die Infrastruktur.

Was ist zu tun, damit die EU weiter im internationalen Wettbewerb bestehen kann?

Die erfolgreiche Umsetzung der grünen Transformation wird zu einem entscheidenden Faktor der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von eta­blierten Volkswirtschaften werden. Die EU setzt zu Recht auf den CO2-Preis als Mechanismus zur Dekarbonisierung. Dieser Ansatz muss jedoch durch wirtschaftspolitische Maßnahmen und vor allem Investitionen begleitet werden, um den Austausch des Kapitalstocks zu fördern und Sprunginnovationen zu ermöglichen. Darüber hinaus muss die EU den Abschluss laufender Handelsabkommen und Rohstoffpartnerschaften für eine resilientere Wirtschaft vorantreiben, vor allem mit Mercosur. Die EU setzt derzeit richtigerweise neue Prioritäten, indem sie nach dem Green Deal die Wettbewerbsfähigkeit neu fokussiert. Darüber hinaus muss die EU den Mut für umfassende Regulierungen haben – wobei die Vollendung des Binnenmarkts durch eine Kapitalmarkt­union im Fokus stehen sollte.

Alix Sauer
Leiterin aktiv-Redaktion Bayern

Alix Sauer hat als Leiterin der aktiv-Redaktion München ihr Ohr an den Herausforderungen der bayerischen Wirtschaft, insbesondere der Metall- und Elektro-Industrie. Die Politologin und Kommunikationsmanagerin volontierte bei der Zeitungsgruppe Münsterland. Auf Agenturseite unterstützte sie Unternehmenskunden bei Publikationen für Energie-, Technologie- und Mitarbeiterthemen, bevor sie zu aktiv wechselte. Beim Kochen und Gärtnern schöpft sie privat Energie.

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