Köln. Ob im Supermarkt, an der Zapfsäule oder im Urlaub: Es ist offensichtlich – die hohe Inflation schmälert die Kaufkraft. Was aber kaum auffällt: Die Inflation schlägt schon viel früher zu, als viele denken! Alle Erwerbstätigen werden bereits kalt erwischt, bevor sie überhaupt einen Euro vom Netto ausgeben können – alle leiden unter einer heimlichen Steuererhöhung.
Das Fachwort dafür: kalte Progression. „Sie entsteht durch das Zusammenspiel von progressivem Steuertarif, normalen Lohnerhöhungen und hoher Inflation. Und wird von vielen gar nicht bemerkt“, erklärt Martin Beznoska, Experte für Finanz- und Steuerpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Der Staat nimmt gerade sehr viel Geld zusätzlich ein – bis zu 15 Milliarden Euro
Ein konkretes Beispiel: Angenommen, man hat in einem Jahr genau 3 Prozent Lohnplus und gleichzeitig genau 3 Prozent Inflation. Dann hat man real nicht mehr im Geldbeutel, steht also in Sachen Kaufkraft zunächst gleich gut da wie vorher. Aber wegen des progressiven, also mit dem Einkommen steigenden Steuertarifs muss man trotzdem etwas mehr Steuern zahlen als zuvor. So kommt man am Ende also schlechter weg.
„Diese schleichende Steuererhöhung ist natürlich sehr unfair“, sagt der Steuerexperte. „Sie beschert dem Staat gerade bis zu 15 Milliarden Euro Mehreinnahmen, einfach so.“ Eine immense Summe, die maßgeblich durch die steigende Inflation entsteht. Denn je höher ein Lohnplus ausfällt, das nur den Kaufkraftverlust ausgleicht, umso schneller landen die Steuerpflichtigen in der nächsthöheren Steuerstufe.
Dieses Problem ist altbekannt und wird politisch auch immer wieder gelöst: Seit vielen Jahren werden die ungerechtfertigten Mehrbelastungen nachträglich gemildert. „Dies geschah regelmäßig durch die Angleichung der Eckwerte im Steuertarif“, sagt Beznoska, „jeweils zum 1. Januar.“ Dadurch wurde sozusagen die Preisentwicklung des Vorjahrs in den Steuertarif eingepreist.
Für 2021 sei das bereits nur halbherzig geschehen, kritisiert der Fachmann, die Kompensation hinke der Inflation stark nach. „Auch die erneute Erhöhung des Grundfreibetrags zum 1. Juli 2022 hat die kalte Progression nicht komplett ausgleichen können. Hinzu kommt nun noch die hohe Inflation in diesem Jahr.“
Voller Ausgleich der heimlichen Steuererhöhungen geboten
Beznoska plädiert dafür, einen Teil der für Anfang 2023 angedachten Entlastung im Steuertarif vorzuziehen, um die Einkommen schnell zu entlasten. „Spätestens Anfang 2023 muss es eine volle Kompensation der kalten Progression geben“, mahnt er. Zumindest Finanzminister Christian Lindner sieht das ähnlich. „Der Finanzminister darf nach meiner festen Überzeugung nicht der Profiteur der Inflation sein“, sagt er im Juli der „Wirtschaftswoche“. Und er kündigte an, dass es 2023 „für alle fleißigen Steuerzahler bei der kalten Progression eine Entlastung geben wird“.
Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.
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