Berlin. Als die Corona-Pandemie begann, hatte Deutschland ziemlich genau ein Jahrzehnt Dauer-Aufschwung hinter sich. Es ging fast allen immer besser (was die in der Industrie beschäftigten aktiv-Leser deutlich gemerkt haben sollten). Aber selbst zehn Jahre stabiler Konjunktur haben nichts daran geändert, dass in unserem reichen Land noch immer zu viele Kinder und Jugendliche von relativer Armut bedroht sind. Rund 2,8 Millionen junge Menschen sind es laut Bertelsmann-Stiftung – jedes fünfte Kind.
2,8 Millionen Kinder in Deutschland sind laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von relativer Armut bedroht.
Nun muss in unserem Sozialstaat natürlich niemand verhungern, es geht eben um „relative“ Armut, auch „Armutsgefährdung“ genannt: Als betroffen gelten Kinder, die in Familien leben, deren Haushaltseinkommen weniger als 60 Prozent des Mittelwerts beträgt. Und diese Kinderarmut ist laut Stiftung ein „ungelöstes strukturelles Problem“ – das die neue Bundesregierung nun recht radikal angehen will: Geplant ist nicht weniger als ein „Neustart der Familienförderung“, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Der zentrale Begriff, mit dem man sich schon mal vertraut machen sollte, lautet: Kindergrundsicherung.
Die Kindergrundsicherung soll das Kindergeld und viele weitere Leistungen zusammenfassen
Unter Leitung der neuen Familienministerin Anne Spiegel (Grüne) sollen das Kindergeld, der Kinderzuschlag sowie Sozialhilfe- und weitere Leistungen zusammengefasst werden zu „einer einfachen, automatisiert berechnet und ausgezahlten Förderleistung“. Bis zur Einführung dieser Kindergrundsicherung will man ärmere Kinder „mit einem Sofortzuschlag absichern“ (und Alleinerziehende mit einer Steuergutschrift entlasten).
Einkommensschwache Eltern sind überfordert – so wird zum Beispiel der Kinderzuschlag vielfach gar nicht beantragt
Hintergrund: Gerade einkommensschwache Eltern sind vom bisherigen Förder-Wirrwarr eindeutig überfordert. Dass sich der Sozialstaat hier mit zu viel Bürokratie selbst ausbremst, kritisieren Experten schon lange. So beträgt zum Beispiel der Kinderzuschlag für Geringverdiener immerhin bis zu 205 Euro pro Kind und Monat – und er ist eine Voraussetzung dafür, weitere Hilfen beantragen zu können. Aber das wissen die betroffenen Familien oft nicht, zudem ist das Antragsverfahren kompliziert. Und so nehmen nach Angabe der Grünen nur 30 Prozent der berechtigten Eltern den Kinderzuschlag tatsächlich in Anspruch.
„Die verschiedenen Leistungen für Kinder zu bündeln und den Zugang dazu zu vereinfachen, das ist ein richtiger und begrüßenswerter Ansatz“, stellt Maximilian Stockhausen fest, Verteilungsforscher am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. „Bisher werden ja sogar unterschiedliche Einkommensdefinitionen verwendet, um die verschiedenen Förderungen zu berechnen.“
Die Familienförderung per Kindergrundsicherung könnte unseren Sozialstaat auf Dauer mehr Geld kosten als heute
Freilich: Das Vorhaben der Ampel-Koalition sei „sehr anspruchsvoll“, urteilt Stockhausen. Die Umsetzung wird Jahre dauern – „und am Ende dürfte die Familienförderung insgesamt für die Steuerzahler wohl teurer werden als heute“.
Laut Koalitionsvertrag soll die neue Kindergrundsicherung aus zwei Teilen bestehen, einem für alle Kinder gleichen Garantiebetrag und einem vom Einkommen abhängigen Zusatzbeitrag. Die Beträge in Euro und Cent stehen noch nicht fest. Was nebenbei noch geändert werden soll: Volljährige Anspruchsberechtigte, also zum Beispiel studierende Kinder, erhalten die neue Kindergrundsicherung direkt aufs eigene Konto.
Thomas Hofinger schreibt über Wirtschafts-, Sozial- und Tarifpolitik – und betreut die Ratgeber rund ums Geld. Nach einer Banklehre sowie dem Studium der VWL und der Geschichte machte er sein Volontariat bei einer großen Tageszeitung. Es folgten einige Berufsjahre als Redakteur und eine lange Elternzeit. 2006 heuerte Hofinger bei Deutschlands größter Wirtschaftszeitung aktiv an. In seiner Freizeit spielt er Schach und liest, gerne auch Comics.
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