Stuttgart. An Heiligabend werden die Kirchen wieder voll sein. Dabei werden sie eigentlich leerer. Bei Katholiken wie Protestanten gibt es einen dramatischen Mitgliederschwund. Jüngste Wegmarke: Seit Anfang 2022 verzeichnen die beiden großen Kirchen in Deutschland nur noch rund 41,3 Millionen Mitglieder. Erstmals sind die Christen damit in der Bevölkerung in der Minderheit.

Das lässt aufhorchen. Dabei war es nur eine Frage der Zeit. Schon seit Jahrzehnten verlieren die beiden großen Kirchen Mitglieder. Und ein Ende des Abwärtstrends scheint nicht in Sicht. Klar ist vielmehr: Die Kirchen stehen vor schwierigen Zeiten. Denn mit den Gläubigen verlieren sie auch an Finanzkraft und an Bedeutung in der Gesellschaft.

„Der Mitgliederschwund geht kontinuierlich und langsam vonstatten“, erklärt Fabian Peters von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, bei der er das Kompetenzzentrum Statistik und Datenanalyse leitet. „Dies führt dazu, dass die Entwicklung von vielen gar nicht so stark wahrgenommen wird. Auch innerhalb unserer Gemeinden ist sie vielen nicht bewusst.“

Beide Konfessionen verlieren an Bindungskraft

Volkswirt Peters steckt tief in der Materie drin. Vor seinem Job bei der Kirche hat er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Freiburg die „Freiburger Studie“ mitverfasst. Sie wurde vor vier Jahren von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland in Auftrag gegeben, um die Entwicklung von Kirchenmitgliedern und Kirchensteuereinnahmen bis 2060 abschätzen zu können. Das Ergebnis der Projektion ist ernüchternd: rund zehn Millionen weniger Kirchenmitglieder schon bis 2040 – und gar eine Halbierung innerhalb der nächsten 40 Jahre. Der Anteil der Christen an der Bevölkerung könnte auf weniger als ein Drittel sinken!

Grund dafür ist laut Studie etwa zur Hälfte der demografische Wandel. Er trifft auch die Kirchen mit voller Wucht. Darüber hinaus fehlt es beiden Konfessionen an Bindungskraft. Menschen treten aus der Kirche aus. Eltern geben ihren Glauben nicht immer weiter: Auf fünf Geburten evangelischer Mütter beispielsweise folgten in der Vergangenheit statistisch nur vier evangelische Taufen.

Wie stark die Säkularisierung im Gang ist, zeigt eine Umfrage des Instituts Allensbach. Die Zahl der Menschen, die „jeden“ oder „fast jeden“ Sonntag einen Gottesdienst besuchen, ging demnach dramatisch zurück. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sank von 27 Prozent im Jahr 1971 auf nur noch 7 Prozent 2021. Zugleich fühlen sich laut Allensbach nur noch 62 Prozent der Katholiken und 46 Prozent der Protestanten ihrer Kirche verbunden. Mehr als ein Drittel aller Kirchenmitglieder hat bereits darüber nachgedacht, auszutreten. Beide Kirchen werden zudem von rund der Hälfte der Gesamtbevölkerung als Institutionen angesehen, die zu starr an überholten Normen festhalten und nach Skandalen unglaubwürdig geworden sind.

„Wir werden den Gürtel enger schnallen müssen“

Das Abwenden ihrer Mitglieder tut den Kirchen weh – auch finanziell. Wer nicht mehr da ist, zahlt auch keine Kirchensteuer. Sie ist die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle der Kirchen.

„Ganz sicher werden wir in Zukunft den Gürtel in allen Bereichen enger schnallen müssen“, sagt Kirchenmann Peters, „schon 2025 bis 2035 wird sich die Lage enorm zuspitzen.“ Schuld sind die Babyboomer, also die Menschen der geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1955 und 1970. Viele von ihnen sind derzeit in der Endphase ihres Berufslebens. Dort ist das Einkommen tendenziell hoch – und damit auch die Kirchensteuer.

Geht diese Generation in Rente, bekommen die Kirchen erhebliche Proble- me. Es geht ihnen genauso wie Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. In vielen Bereichen herrscht bereits heute Fachkräftemangel, bis 2035 könnte Deutschland laut Prognosen bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte verlieren.

Lindern könnte das Problem mehr Zuwanderung. Viele in Politik und Wirtschaft wünschen sich das. Für die Kirchen wäre damit allerdings kaum etwas gewonnen: Christen dürften kaum dabei sein. „Auf Zuwanderung können wir als Kirche nicht setzen“, so Peters.

Es bleibt wohl vor allem das Sparen – auch wenn das schwierig ist. „Kirchen können aufgrund ihrer hohen Fixkosten nur sehr träge auf geringere Einnahmen reagieren“, erklärt Peters. Da ist vor allem das Personal. Bei der evangelischen Kirche entfallen rund zwei Drittel aller Ausgaben auf Gehälter und Versorgungsbezüge. Immerhin: „Die konsequente Rücklagenpolitik der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten verschafft uns die Möglichkeit, auf solche Herausforderungen mit kühlem Kopf zu reagieren“, versichert der Kirchenmann. „Wir werden in Deutschland niemanden kündigen müssen.“

Kirchen übernehmen auch viele soziale Aufgaben

Und dann sind da noch die vielen Gebäude. „Steinreich“ sei man ja, sagt Peters. „Aber gerade das ist eine Riesenkatastrophe.“ Die Immobilien sind teuer im Unterhalt, stehen teils unter Denkmalschutz. Und gerade Kirchen können oft nur sehr spezifisch genutzt werden. Nicht immer kann man aus ihnen Veranstaltungsräume oder Begegnungsstätten machen.

Was bleibt sonst? Kürzt man bei der Gemeindearbeit? Gibt man Kindergärten auf? Streicht man Bildungs- und Beratungsangebote? Je nachdem, wo gespart wird, könnte der Rotstift bittere Folgen für die Gesellschaft haben. Denn Kirchen übernehmen viele soziale Aufgaben.

Alternativ zum Sparen bleibt der Versuch, den Mitgliederschwund noch irgendwie zu bremsen. Doch auch das dürfte schwierig werden. Insbesondere die Generation der 20- bis 30-Jährigen kehrt der evangelischen Kirche den Rücken, wie Peters berichtet. In dieser Lebensphase starten viele in den Beruf – und zahlen erstmals Kirchensteuer.

Umfragen zu den Austrittsgründen zeigen, dass eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche besteht und eine nüchterne Kosten-Nutzen-Kalkulation dominiert. Eine typische Antwort, so Peters: „Mit der Kirche ist es wie mit einem Fitnessstudio – ich zahle einen Beitrag, gehe aber nie hin.“

Über die Schwierigkeiten und Sorgen der katholischen Kirche in Ostdeutschland spricht der katholische Bischof im Bistum Magdeburg, Gerhard Feige im Interview mit aktiv.

Michael Stark
aktiv-Redakteur

Michael Stark schreibt aus der Münchner aktiv-Redaktion vor allem über Betriebe und Themen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Darüber hinaus beschäftigt sich der Volkswirt immer wieder mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Das journalistische Handwerk lernte der gebürtige Hesse als Volontär bei der Mediengruppe Münchner Merkur/tz. An Wochenenden trifft man den Wahl-Landshuter regelmäßig im Eisstadion.

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