Stuttgart. Während Europa sich locker gemacht hat, hält China an seiner strikten Null-Covid-Politik fest. Über die weitreichenden Folgen für die Industriebetriebe vor Ort und vor allem auch hierzulande sprach aktiv mit Tim Wenniges. Er ist Geschäftsführer für europäische und internationale Sozialpolitik beim Arbeitgeberverband Südwestmetall und kennt China aus jahrelanger Erfahrung.

Wie ist derzeit die Situation in China?

Die Impfquote ist insbesondere bei Älteren gering, mit einem nicht sehr wirksamen Impfstoff, daher die Lockdowns. Alle Menschen, egal ob Chinesen oder Ausländer, zahlen dafür einen hohen Preis. Wer arbeitet, lebt in der Firma. Aber selbst Betriebe, in denen gearbeitet wird, haben Produktionsstopps, weil die Logistik nicht funktioniert. Insgesamt sind Export und Import massiv gestört.

Welchen Anteil hat das an der gegenwärtigen Krise?

Das ist schwer zu beziffern, weil die verschiedenen Probleme ineinandergreifen. Aber die wirtschaftlichen Folgen der gestörten Lieferketten von und nach China sind potenziell weit drastischer als die Folgen des Kriegs in der Ukraine – sofern es kein Gas-Embargo gibt.

Warum wiegt die China-Problematik so viel schwerer?

Ein Produkt wie Kabelbäume bekommt man zur Not auch woanders, wenn die Ukraine es nicht liefern kann. Der China-Handel hat dagegen schlicht eine ganz andere Dimension. Das Land ist unser wichtigster Handelspartner, für viele baden-württembergische Firmen ist China der Hauptabsatzmarkt. Die meisten Schiffe, die im Hamburger Hafen anlegen, kommen aus vier chinesischen Häfen, darunter Schanghai. Im Hafen von Schanghai werden pro Jahr eine Million Container umgeschlagen – wenn sie denn umgeschlagen werden …

„Der massive Einbruch der Lieferketten wird noch mehrere Monate nachwirken.”

Was bedeutet das konkret für die Unternehmen hierzulande?

Um mal eine Zahl zu nennen: Vor der Krise hat ein Container auf der Route Schanghai – Rotterdam etwa 1.000 Dollar gekostet. Jetzt sind es 14.000 Dollar! Das kommt zu den schon bestehenden Problemen wie Halbleitermangel, Lieferverzögerungen, Energiepreise hinzu. Unsere Industrie ist von allen Seiten in die Zange genommen. Was wir gerade erleben, ist eine noch nie da gewesene Situation.

Was macht die Lage so speziell?

Es ist die erste Krise mit vollen Auftragsbüchern! Die Firmen können ihre Aufträge nicht abarbeiten – weil Vorprodukte fehlen oder weil sie ihre Produkte nicht verschiffen können. Oder sie produzieren, verdienen aber nichts, weil die Kosten explodieren. Die Frage ist auch: Bleibt das Auftragsniveau so hoch, oder springen die Kunden ab?

Man darf ja mal träumen: Wenn morgen Frieden in der Ukraine ist und China einen Freedom Day feiert – wäre dann alles wieder normal?

Ein Corona-Freedom-Day in China liegt in weiter Ferne. Und selbst wenn der morgen käme, würde es noch einige Monate dauern, bis sich die Lieferketten wieder entspannen. Erinnern wir uns daran, wie nur ein einziges Schiff den Suezkanal blockierte: Damals brauchte der Verkehr vier Wochen, um sich zu normalisieren. Der aktuelle massive Einbruch der Lieferketten wirkt auf jeden Fall noch mehrere Monate nach. Genauso wie beim Krieg in der Ukraine wissen wir nicht, wie die Dominosteine in dieser komplexen Kettenreaktion fallen und was sich wann wie auswirkt.

Was können die Betriebe also tun?

Ihnen bleibt nur, zu diversifizieren. Das heißt: bei Lieferanten und Absatzmärkten auf eine größere Bandbreite zu setzen, soweit dies möglich ist. Viele, vor allem mittelständische Unternehmen, machen das ohnehin schon sehr klug. Was die Lage trotzdem so kritisch macht: Die Unternehmen können kaum planen. Sie wissen nicht: Woher bekomme ich Material – und zu welchen Preisen? Wie teuer wird Energie künftig? Kann ich diese überhöhten Preise weitergeben? Kann ich meine fertigen Produkte überhaupt verschiffen? Diese vielen Unsicherheiten sind Gift!

Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

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