München. Es ist kurz vor zehn, auf dem Gelände der Messe in der bayerischen Landeshauptstadt stehen kleine Grüppchen junger Menschen in der wärmenden Vormittagssonne. Es sind Studenten, Berufsanfänger. Und allesamt Tekkys: IT-Experten, Software-Developer, Designer, Sicherheitsexperten, App-Spezialisten. Hauptsache was mit Computern. Die Stimmung ist partymäßig, kein Wunder. Denn sie alle wissen: Wenn hier in ein paar Minuten die Glastüren zur Karrieremesse für IT-Fachkräfte aufgehen, dann werden sich die Firmenvertreter drinnen wieder um sie reißen. „Du fühlst dich ein bisschen wie ein Topmodel auf einer Singleparty“, sagt einer der Wartenden. Als Bewerber könne man das fast genießen, „Motto: Alles kann, nichts muss“, sagt er noch. Und dann gehen die Türen auf.
Weißwurst und Hipster-Cola vom Elektrokonzern
Alles kann, nichts muss? Klingt ja lustig. Aber: Der Wirtschaft ist angesichts des immer dramatischeren Fachkräftemangels gerade bei technischen Berufen das Lachen längst vergangen. Laut einer aktuellen Erhebung des Berliner Digitalverbands Bitkom fehlen den Unternehmen hierzulande derzeit sage und schreibe 137.000 IT-Expertinnen und -Experten. Und zwar quer durch alle Branchen. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 wurden lediglich 43.000 IT-Fachleute gesucht. Bitkom-Chef Achim Berg schlägt daher mächtig Alarm: „Dieser Fachkräftemangel entwickelt sich zum Haupthindernis bei der digitalen Transformation.“ Besserung sei zudem so gar nicht in Sicht. Daran ändere auch die jüngste Entlassungswelle im Silicon Valley drüben in den USA gar nichts. Im Gegenteil. „Der Mangel wird sich in den kommenden Jahren dramatisch verschärfen, wenn die Boomer in Rente gehen“, hämmert Berg verbal auf den Alarm-Buzzer.
Mit Recht. Digitalisierung, Mobilitätswende, klimafreundliche Produktion, Innovation wie Robotik oder künstliche Intelligenz – wie soll man das denn alles gewuppt bekommen als Land? Als Volkswirtschaft. So ohne ausreichende Zahl an schlauen Computer-Köpfen?
Fakt ist: Schon jetzt dauert es immer länger, bis Firmen offene IT-Stellen besetzen können. Im Schnitt ist eine IT-Stelle mehr als sieben Monate unbesetzt. „Dabei spielen die Unternehmen bei der Suche längst die komplette Klaviatur“, so Bitkom-Boss Berg.
Dazu gehören auch Stände auf Karrieremessen, wie an diesem Tag in München. Seit ein paar Stunden sind die Türen jetzt offen, die Halle ist proppevoll. Dutzende von Firmen haben ihre Stände aufgebaut, vom Start-up bis zum Weltkonzern ist alles dabei. Ein Elektrokonzern verteilt an seinem Stand Weißwürste und Hipster-Cola, gratis natürlich, Hauptsache, es kommen genug Leute vorbei und bleiben ein wenig am Stand kleben. Es herrscht Festival-Atmosphäre, Krawatten sind keine zu sehen, jeder duzt sich.
Lukas Leitenberger aber sieht trotzdem ein wenig gestresst aus. Obwohl selber erst 29 Jahre jung, verantwortet Leitenberger die Software-Entwicklung beim schwäbischen Maschinenbaukonzern Voith. Sein Job heute hier: Talente für sein Unternehmen mit Hauptsitz im beschaulichen Heidenheim begeistern.
Und was sucht Voith genau? Leitenberger streicht sich die Tolle aus dem Gesicht, dann sagt er: „Wir sind so groß, wir brauchen alles. Alles!“ Seit über einem Jahr beispielsweise sei der Job eines Internet-Security-Experten verwaist. Selbst Freelancer seien mittlerweile immer schwerer zu finden. Und wenn, dann fielen deren Rechnungen immer fetter aus. Leitenberger: „3.000 Euro sind da mittlerweile üblich. Am Tag!“
Ohne flexible Arbeitszeiten geht’s nicht
Die Zeiten, in denen das als Monatsgehalt für Berufsanfänger durchging – vorbei. „Wer sich als Bewerber auf so einer Messe umsieht, kennt seinen Wert ganz genau“, sagt die Personalerin eines Weltkonzerns. Der hat seinen Stand ein paar Meter von Voith entfernt aufgebaut, verteilt fleißig Kulis und Jutetaschen. In der Zeitung erwähnen aber solle man das Weltunternehmen dann aber – bitte, bitte – doch nicht. Was noch verraten wird: „Immer mehr wird hier nach flexiblen Arbeitszeitmodellen gefragt, wer als Arbeitgeber da nichts anbieten kann, geht wahrscheinlich leer aus.“
Selbst Berufsanfänger scheuten sich nicht, direkt am Stand nach Sabbaticals zu fragen. Man selbst profitiere bei der Talentjagd zwar noch vom Ruf des Konzerns. Trotzdem werde es auch für die Dickschiffe in der deutschen Wirtschaft immer schwerer, Stellen zu besetzen. „Wenn wir heute auf dieser Messe 100-mal unsere Daten rausgeben, kommen am Ende vielleicht drei, vier Bewerbungen dabei rum.“ Noch schwieriger sei es da für kleinere Firmen mit weniger Donnerhall im Ruf: „Die müssen beim Gehalt schon richtig auspacken, auch der Dienstwagen wird da oft schon vorausgesetzt.“
Dicke Kohle, fette Karre und Viertagewochen? Ist es das, was die Leute lockt? Anke P. zieht die Stirn ein wenig in Falten, schüttelt dann den Kopf. Und sagt: „Was ich hier suche, ist ein Paket, das zu mir passt. Und das Gehalt ist da nur ein Faktor.“ Anke P., 26, ist Informatikerin, und zwar mit ellenlanger Skills-Liste. Master in Mensch-Computer-Interaktion, Erasmus-Semester, schon haufenweise Erfahrung als Software-Entwicklerin im In- und Ausland – eine wie sie will hier jede Firma am liebsten direkt vom Stand weg verpflichten.
Wenn die Münchnerin bloß mitspielen würde. Sie aber will ganz genau hinsehen. „Ich guck mir an, wie die Leute sind, die Strukturen, die Firmenkultur.“ Ob Mittelständler, Konzern oder Start-up sei gar nicht so entscheidend. „Ich will mich vor allem einbringen, und sinnstiftend muss die Aufgabe sein, die man mir überträgt.“ Viel lernen wolle sie auf ihrer nächsten Station, Erfahrung sammeln. Als sie das erzählt, ahnt sie noch nicht: Es wird gut laufen für sie an diesem Tag. Ein paar Wochen später schickt sie drei Bewerbungen auf die Reise. Um die die Firmen auf der Messe geradezu gebettelt haben.
Was man verstehen kann. Denn: Mit Blick auf die Zahl der Informatikstudenten herrscht bei den deutschen Firmen schon jetzt mindestens Alarmstufe Orange! Begannen 2019 noch knapp 80.000 junge Menschen ein IT-Studium, waren es 2021 nur noch 72.000. Problem: Weniger als die Hälfte schließen ihr Studium auch ab! „Auch wenn die Uni nur ein Weg zur IT ist, zeigt sich daran, dass wir den Bedarf zukünftig nicht mehr decken können“, sagt Bitkom-Chef Berg.
Russische Informatiker als Lückenfüller?
Und jetzt? Um den immer weiter wachsenden Bedarf zu decken, setzen Technologieunternehmen wie SAP oder der Zahlungsdienstleister Klarna auf die Qualifizierung von Quereinsteigern. Doch das allein wird kaum reichen. Bildungsexperten wie Professor Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln fordern daher das große Besteck: „Informatik als Pflichtfach in der Schule, in allen Bundesländern!“ Dazu, so Plünnecke, sollte bei der Berufs- und Studienorientierung stärker deutlich gemacht werden, welchen positiven Effekt IT-Expertinnen und -Experten für den Klimaschutz haben. Weiterhin könnten an den Hochschulen mehr Unterstützungssysteme helfen, die viel zu hohen Abbrecherquoten zu senken. Plünnecke: „Und es muss weiter für Zuwanderung in die IT-Berufe geworben werden. Hier hat in den letzten Jahren vor allem auch Zuwanderung aus Indien zur Fachkräftesicherung beigetragen.“
Und geht es nach dem Digitalverband Bitkom, haben viele neue IT-Fachkräfte in Deutschland in Bälde auch einen – russischen Pass! Rund 59.000 Stellen könnten mit ITlern aus Russland und Belarus besetzt werden, schätzt der Verband. Nach eingehender Sicherheitsprüfung, versteht sich.
Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher.
Alle Beiträge des Autors