Sulzburg. Kaum ein Industrie-Unternehmen in Baden-Württemberg bleibt von den anhaltenden Engpässen bei den Mikrochips unberührt. Das hat Auswirkungen, die weit über die industrielle Produktion hinausgehen. Warum das so ist, beschreibt Michael Roth im Interview. Er ist Geschäftsführer der Hekatron Technik GmbH, die unter anderem Rauchwarn- und Sicherheitssysteme produziert.

Was bedeutet der Chipmangel für einen Mittelständler wie Hekatron?

So eine Ausnahmesituation habe ich in 33 Geschäftsjahren noch nie erlebt. Die Lage ist immer schwieriger einzuschätzen, auch wegen der rigorosen Null-Covid-Politik in China. Da kann es sein, dass ganze Häfen geschlossen werden wegen eines einzigen infizierten Hafenarbeiters! Wir müssen teilweise teure Zukäufe auf dem sogenannten Spot-Broker-Markt tätigen.

„Ein Mikrochip kann jetzt das Zehnfache kosten.“

Für uns bedeutet das: Ein Chip, für den wir bisher 2,53 Euro gezahlt haben, kann jetzt 25 Euro kosten, also das Zehnfache! Das summiert sich, denn wir verarbeiten pro Jahr rund eine Milliarde Halbleiter. Sie sind die Grundlage für unsere Produkte.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

In einem einzigen Rauchmelder stecken mehrere Chips und insgesamt rund 150 Bauteile. Wenn nur ein Chip fehlt, können wir mit der Fertigung nicht anfangen und alle anderen 149 Teile liegen auf Lager. Denn den Chip kann man nicht im ansonsten fertigen Rauchmelder nachrüsten. Diese zusätzliche Lagerhaltung verursacht Kosten und schränkt unsere Liquidität ein. Wir kommen noch damit zurecht, aber für viele kleinere Firmen kann das existenzbedrohend sein. Und auch in ganz anderer Hinsicht kann das übrigens kritisch werden.

Was meinen Sie damit?

Ohne Rauchwarn- und Patientennotrufsysteme können systemrelevante Einrichtungen wie etwa Kliniken nicht in Betrieb gehen.

Und wie gehen Sie als Unternehmen nun mit diesen Engpässen um?

Über die Preissteigerungen müssen wir ehrlich mit unseren Kunden sprechen. Außerdem bestellen wir für 24 Monate im Voraus und versuchen, den Markt langfristig einzuschätzen. Bei der Auswahl der Lieferanten zählt nicht nur der Preis, sondern auch: Wie zuverlässig sind sie, wo wird das Bauteil produziert? Man muss sich situativ immer wieder neu aufstellen. Auch in der Produktion.

Heißt das, auch die Belegschaft muss flexibler werden?

Wir müssen unsere Mannschaften auf jeden Fall mitnehmen, offen informieren und vor allem Mut machen. Mal muss sozusagen mit mehr als voller Kraft gearbeitet werden – und an anderen Tagen geht nichts, weil kein Material da ist. Unsere Mitarbeiter haben zum Glück fantastisch mitgezogen, und auch der Betriebsrat trägt es mit.

Warum dauert es eigentlich so lang, bis sich die Situation normalisiert?

Vor 2023 rechnen wir tatsächlich nicht mit einer Entspannung. Ich vermute, dass auch bei Halbleitern Hamsterkäufe stattfinden – wie im ersten Lockdown beim Toilettenpapier. Bis das nachlässt und neue Kapazitäten aufgebaut sind, dauert es. Die Chipfertigung kann nicht von heute auf morgen ausgeweitet werden. Und global gesehen sind die europäischen Hersteller ein Leichtgewicht. In Europa werden oft sehr spezielle Chips produziert, aber nicht für den Massenmarkt. Rund 80 Prozent aller Chips weltweit werden in Asien produziert. Eine der größten Foundries ist dabei TSMC in Taiwan.

Wie konnte es zu dieser extremen Abhängigkeit von Asien kommen?

Da muss ich etwas ausholen. Chipfabriken brauchen Infrastruktur, Wasser und Energie. Energie und Sprit sind bei uns besonders teuer. Durch die Inflation werden sie noch teurer. Da muss man sich dringend fragen: Warum sind die Kosten bei uns so hoch? Denn auch aus diesem Grund wurde das Thema Halbleiter und Chipherstellung bei uns irgendwann nicht mehr verfolgt: Einkaufen in Asien war einfach viel günstiger. Vor allem die Taiwanesen haben das genutzt und das Feld besetzt. Das fällt uns jetzt auf die Füße.

Was müsste passieren, damit sich das ändert?

Wir Europäer haben uns zurückfallen lassen und müssen jetzt aufholen. Der European Chips Act der EU zur Förderung der europäischen Halbleiter-Industrie kommt eigentlich viel zu spät, ist aber ein guter Ansatz. Er muss jetzt dringend umgesetzt werden. Und zwar mit den neuesten Technologien.

Zu wenig Produktion in Europa

1 Billion Mikrochips wurden 2020 weltweit hergestellt. Der Anteil der EU am globalen Chipmarkt beträgt nur 10 Prozent. Diesen Anteil will die EU bis 2030 auf 20 Prozent erhöhen. Dafür sollen mit dem European Chips Act öffentliche und private Investitionen in Höhe von mehr als 43 Milliarden Euro mobilisiert werden.

Quelle: Europäische Kommission

Was Mikrochips so kostbar macht: Zahlen und Fakten

50 Mikrochips können unter einer Bedienoberfläche stecken

  • Zum Beispiel bei Rafi, dem Ravensburger Spezialisten für Bediensysteme. Die Chips sind unterschiedlich und daher nicht einfach austauschbar! „Wenn wir eine bestimmte Art Chip nicht bekommen und durch eine andere Art ersetzen müssen, müssen wir das ganze Teil umkonstruieren und auch neu testen. Das kostet uns rund ein halbes Jahr“, erklärt Eric Bulach, Leiter Strategie/ Produkte/Märkte. „Wir tun alles, um unsere Kunden zu bedienen. Sonst steht vielleicht eine Maschine, die ein paar Millionen Euro kostet, auf Halde, weil ein Touch-Panel fehlt.“
  • Die Pläne der EU, die Halbleitertechnologie in Europa zu stärken, findet Rafi prinzipiell richtig. Die globalen Verflechtungen und Abhängigkeiten werden aber bleiben. Denn die Chipfertigung besteht aus mehreren Schritten. Davon findet einer vielleicht in Europa statt, der nächste in Taiwan, der dritte in China und der letzte in Malaysia – kein Hersteller deckt alle Schritte ab.

(Quelle: Rafi Group)

15 Prozent teurer sind Mikrochips für Rafi – bei älteren Technologien auch mehr

  • Wenn Halbleiterlieferanten ausfallen, muss der Elektronikfertiger auf Zwischenhändler ausweichen – die mit der Ware auch spekulieren: Sie kaufen Chips auf und verkaufen sie viel teurer. Ausfälle gibt es nicht nur wegen Corona. Wenn zum Beispiel in China die Stromversorger nicht genug liefern können, wird der Strom kontingentiert. Dann wird auch mal eine Fabrik einfach vom Netz abgeklemmt und kann deshalb nicht produzieren.

(Quelle: Rafi Group)

160 Millionen Euro kann eine Maschine für die Halbleiterfertigung kosten

  • Das ist der Preis für eine Maschine neuesten Typs vom niederländischen Ausrüster ASML. Außerdem gelten in einer Halbleiterfabrik strengste Reinraumbedingungen: In einem Kubikfuß Luft (rund 28 Liter) darf sich nur ein einziges Partikel mit einem Gewicht von einem halben Mikrogramm befinden. Der Aufbau einer neuen Fabrik ist also sehr aufwendig – und sehr teuer.

(Quellen: ASML, Bosch)

17 Prozent – um so viel stieg die Nachfrage nach Halbleitern seit 2020 pro Jahr

  • Und 2022 dürfte sie genauso weitersteigen. Die Produktionskapazitäten wachsen aber nur um 6 Prozent jährlich. Die Halbleiterfabriken sind im Schnitt bereits zu 97 Prozent ausgelastet, die Produktion lässt sich also nicht so schnell ausweiten.

(Quelle: Roland Berger Unternehmensberatung)

80 Prozent der Innovationen in Fahrzeugen beruhen auf Halbleitern

  • Chips befinden sich zum Beispiel im Antriebsstrang, im Cockpit sowie in Fahrerassistenz- und Sicherheitssystemen.

(Quelle: ZVEI)

Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

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