München. Kürzer duschen oder Pulli an: Das wird nicht reichen! Beim Thema Gasversorgung geht es vor allem in der Industrie um mehr. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) hat in einer Studie durchrechnen lassen, was ein Lieferstopp von russischem Erdgas für Deutschland wirklich bedeuten würde.

Eine kurzfristige Lieferunterbrechung würde demnach zu Einbußen der deutschen Wirtschaftsleistung von insgesamt bis zu 193 Milliarden Euro (minus 12,7 Prozent) im zweiten Halbjahr 2022 führen. Strömt kein Gas mehr durch Pipelines wie Nord Stream 1 zu uns, hätte dies deutliche Auswirkungen auf die Erwerbstätigen. „Rechnerisch wären etwa 5,6 Millionen Arbeitsplätze betroffen“, betont vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.

Bedarf der Industrie bei Mangellage nicht mal zur Hälfte gedeckt

Das zugrunde liegende Szenario beleuchtet die negativen wirtschaftlichen Effekte ausgehend von einem Lieferausfall ab Juli 2022. Es berücksichtigt bereits mögliche Einspar- und Ersatzmöglichkeiten für Gas sowie die gesetzlichen Vorgaben zur Befüllung der Gasspeicher. Um über den Winter zu kommen, wird ein Füllstand von 90 Prozent bis 1. November angestrebt; im Juli waren die Speicher erst zu 60 Prozent gefüllt.

Die Studie zeigt es schwarz auf weiß: Aufgrund der festgelegten Mindestmengen in den Speichern und der vorrangigen Versorgung „geschützter“ Kunden wie Privathaushalte, Krankenhäuser sowie Gewerbe, Handel und Dienstleistungen wäre der Gasbedarf der Industrie bei einer Mangellage nicht einmal zur Hälfte gedeckt.

Stark betroffen sind Branchen wie die Glas-Industrie sowie Stahlverarbeitung. Gas wird dort für Schmelzprozesse oder zum Betrieb von Walzwerken gebraucht. „Dort müssen wir davon ausgehen, dass die Wertschöpfung um fast 50 Prozent zurückgeht“, so die vbw. Ähnliches gilt für die Chemie-, Keramik-, Nahrungsmittel- und Textilbranche sowie Druckereien, mit Wertschöpfungsverlusten von je mehr als 30 Prozent.

Zu den direkten Verlusten, die sich auf 49 Milliarden Euro summieren, kommen indirekte Auswirkungen. Sie würden Deutschland und Bayern noch weit mehr treffen. Mit weiteren 144 Milliarden Euro Wertschöpfungsverlust sind sie laut den Berechnungen sogar dreimal so hoch wie die direkten Folgen eines möglichen Gas-Lieferstopps!

Das liegt vor allem an eng verflochtenen Produktions- und Lieferketten. „Die Erdgas-Engpässe bewirken einen Dominoeffekt“, so Brossardt. Kann ein Betrieb aufgrund des Energiemangels nicht mehr produzieren, fragt er auch keine Vorleistungsgüter nach. Dadurch brechen seinen Zulieferern ebenfalls Umsätze weg. Genauso sitzen am anderen Ende weiterverarbeitende Firmen plötzlich auf dem Trockenen.

Betriebe brauchen Förderung für die Umrüstung von Anlagen

Vor diesem Hintergrund gehe es nun darum, die Gasversorgung für die Bevölkerung und die Wirtschaft zu sichern, so Brossardt. „Ziel muss die vollständige Unabhängigkeit in möglichst kurzer Zeit sein.“ Die vbw plädiert für Umrüstungsprogramme für die Industrie und eine Reduktion der Gasverstromung. Angesichts der drohenden Engpässe dürfe man Erdgas schon jetzt nur dort einsetzen, wo man es unbedingt braucht – und sollte es dort ersetzen, wo dies möglich sei. Andere Energieträger müssen kurzfristig einspringen. Parallel muss der Ausbau aller erneuerbaren Energien mit aller Macht vorangetrieben werden, inklusive der erforderlichen Stromnetze.

Friederike Storz
aktiv-Redakteurin

Friederike Storz berichtet für aktiv aus München über Unternehmen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Die ausgebildete Redakteurin hat nach dem Volontariat Wirtschaftsgeografie studiert und kam vom „Berliner Tagesspiegel“ und „Handelsblatt“ zu aktiv. Sie begeistert sich für Natur und Technik, Nachhaltigkeit sowie gesellschaftspolitische Themen. Privat liebt sie Veggie-Küche und Outdoor-Abenteuer in Bergstiefeln, Kletterschuhen oder auf Tourenski.

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