Berlin. Deutschland 2030: Auf den Straßen rollen 15 Millionen Elektroautos, in mehr und mehr Häusern heizen elektrische Wärmepumpen und immer mehr Industriebetriebe produzieren nur mit Ökostrom. Wind und Sonne liefern 80 Prozent des Stroms, doppelt so viel wie heute. Das Land ist auf dem Weg zur Klimaneutralität.

Diese Zukunftsvision der Ampel-Koalition erhält durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine eine zusätzliche, dramatische Bedeutung. Man will sich möglichst schnell unabhängig machen von russischem Gas, aber auch von Öl und Kohle. Gelingen soll das durch einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, sagt Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck. Jedes neue Windrad, jede neue Solaranlage bringt ein Stück mehr Unabhängigkeit von russischen Lieferungen.

Stromversorgung: Das ambitionierte Ziel der Regierung ist machbar

Die Herausforderung dabei: Deutschland benötigt im Jahr 2030 deutlich mehr Strom als heute. Allein die vielen E-Autos schlucken dann zusätzliche 48 Milliarden Kilowattstunden Strom, klimaneutrale Firmen saugen 45 Milliarden Kilowattstunden mehr aus dem Netz, Wärmepumpen verheizen weitere 28 Milliarden. Alles in allem benötigt Deutschland 2030 ein Viertel mehr Strom als heute – insgesamt 725 Milliarden Kilowattstunden, so das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität Köln (EWI).

Wachsender Energiebedarf: 400 Prozent mehr Strom braucht der Verkehr im Jahr 2030 wegen der vielen Elektroautos, hat das Energiewirtschaftliche Institut an der Uni Köln errechnet.

Wo soll der ganze Strom für diese Pläne herkommen? Und wie soll das klappen, wenn das letzte Kohlekraftwerk möglichst bis 2030 abgeschaltet wird? Und Ende dieses Jahres soll eigentlich der letzte Atommeiler vom Netz gehen. Nicht wenige sehen die Ausbaupläne der Regierung mit Skepsis. Verbraucher sorgen sich, wie es weitergeht mit den ohnehin steigenden Preisen für Strom und Heizen. Beschäftigte fragen sich, was das für die Zukunft ihrer Jobs bedeutet. Die Industrie hofft auf billigen Grünstrom für die klimaneutrale Produktion und fürchtet zugleich um die Sicherheit der Versorgung. Wind und Sonne liefern ja nicht immer.

Klappen kann das alles trotzdem, sagt Energie-Experte Marco Wünsch vom Beratungsunternehmen Prognos in Berlin: „Die Ziele sind zwar extrem ambitioniert. Aber wenn der Minister die richtigen Stellschrauben dreht, die Bundesländer beim Ausbau der Windenergie mitziehen und man die Akzeptanz steigert, dann ist das durchaus machbar.“ Also: Wie soll das gehen, 80 Prozent Ökostrom? aktiv erklärt die Energiewende.

Sonnenstrom

Bis 2030 müssten jährlich Solaranlagen mit 16 Gigawatt Leistung zugebaut werden, doppelt so viel wie in den stärksten Ausbaujahren bisher. „Das ist zu schaffen“, sagt Prognos-Experte Wünsch. „Photovoltaik-Anlagen für Einfamilienhäuser bringen heute etwa 50 Prozent mehr Stromertrag als vor zehn Jahren, Anlagen auf Freiflächen sogar doppelt so viel.“ Der Strom aus den Solarparks ist inzwischen so preiswert, dass Stadtwerke und Stromversorger wie die baden-württembergische EnBW Parks bereits ohne Förderung errichten. Und Häuslebauer sowie Eigenheimbesitzer haben letztes Jahr 225.000 Solaranlagen installiert, mehr als dreimal so viel wie 2018.

Windräder an Land

Hier wartet die größte Herausforderung auf Wirtschaftsminister Habeck. 5,1 Gigawatt Leistung müssten pro Jahr hinzukommen, haben Wissenschaftler des Instituts EWI in Köln berechnet. Letztes Jahr wurden aber nur 484 Windräder mit 1,9 Gigawatt errichtet. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Anlagen mit 10 Gigawatt hängen derzeit in den vier bis fünf Jahre langen Genehmigungsverfahren fest. Etwa die Hälfte davon wird durch den großen Mindestabstand zu den Drehfunkfeuern der Flugsicherung sowie militärischem Radar blockiert. Die Regierung will die Abstände reduzieren, die Verfahren beschleunigen und 2 Prozent der Landesfläche für Windenergie reservieren; bisher sind 0,8 Prozent nutzbar.

Übrigens müssen gar nicht so viele neue Windräder errichtet werden, sagt Wünsch: „Die Anlagen bringen heute meist 4 Megawatt Leistung, bald sind es 5 Megawatt. Das ist fünf- bis zehnmal so viel wie früher.“ Da muss man oft nur alte durch moderne Anlagen ersetzen.

Windräder auf See

2,2 Gigawatt pro Jahr müssten installiert werden, dreimal so viel wie bisher. Die Chancen sind recht gut. Windkraft auf See ist im letzten Jahrzehnt um mehr als 60 Prozent billiger geworden. Konzerne wie BASF, Covestro, Fraport wollen künftig förderfreie Windenergie vom Meer beziehen. Pluspunkt: An 363 Tagen im Jahr liefern die Anlagen Strom, wenn auch manchmal nur mit verminderter Leistung.

Gaskraftwerke 

Weitere Blöcke müssen her, wenn die Kohlekraftwerke vom Netz gehen. Damit bei Dunkelflaute die Stromversorgung gesichert bleibt und es nicht einen Blackout gibt. „Je nach Studie benötigen wir dafür neue Gaskraftwerke mit 10 bis 20 Gigawatt Leistung“, erklärt Experte Wünsch. „Mit Baukosten von 600 Millionen Euro pro Gigawatt sind sie deutlich preiswerter als etwa Kohlekraftwerke.“ Aber die Zeit drängt, 2030 sollten die ersten stehen. Das nötige Gas könnte teilweise als verflüssigtes Erdgas aus den USA kommen. Die Regierung will jetzt zwei Anlande-Terminals bauen.

Deutschland benötige auch weitere Stromtrassen zu Nachbarstaaten, um bei Engpässen mehr Energie importieren zu können, und zusätzliche Stromspeicher. Wünsch: „Und je intelligenter der Stromverbrauch, etwa das Laden von E-Autos, gesteuert werden kann, desto geringer fallen Verbrauchsspitzen aus.“

Und was bedeutet das alles für Verbraucher? Mittelfristig wird Strom krisenbedingt teuer bleiben. Je mehr aber das Land unabhängiger wird von Gas- und Kohle-Importen, desto mehr können Wind- und Sonnenenergie ihre wenig bekannte Stärke ausspielen: dass sie billiger sind als Strom aus Kraftwerken.

Hans Joachim Wolter
aktiv-Redakteur

Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

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