So viel Beschäftigung war nie in Deutschland: 45,9 Millionen Menschen arbeiteten hierzulande im vergangenen Jahr. Als Mechanikerin, Techniker, Ingenieurin, Kaufmann, Handwerkerin oder Selbstständiger. In Vollzeit, Teilzeit oder Minijob. 45,9 Millionen Erwerbstätige im Jahresdurchschnitt – das heißt, so das Statistische Bundesamt, Höchststand seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990.
Also alles easy auf dem Arbeitsmarkt? „Jein“, antworten da Experten.
Die langjährige Aufwärtsdynamik bei der Beschäftigung ist aktuell weg
„Der Arbeitsmarkt gerät zunehmend in schwieriges Fahrwasser“, sagt etwa Ökonom Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Wir erwarten einen nennenswerten Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 2,76 Millionen Arbeitslose.“ Denn die lähmende Rezession mache sich eben mehr und mehr auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Arbeitslosenquote werde im Jahresschnitt von 5,7 auf 6 Prozent steigen. Einen dramatischen Anstieg werde es aber nicht geben.
Ein ähnliches Szenario erwartet auch Professor Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. „Der Arbeitsmarkt ist immer noch ziemlich stabil“, sagt er, „die langjährige Aufwärtsdynamik mit jährlich mehreren Hunderttausend neuen Beschäftigten – die ist aktuell allerdings weg.“ Immer weniger neue offene Stellen werden laut Weber gemeldet, und der Bestand an zu besetzenden Stellen geht zurück.
Sicherlich gibt es noch eine Menge Bereitschaft, neue Arbeitskräfte einzustellen, wie das Ifo-Institut in München berichtet. „Im Moment suchen vor allem Dienstleister Personal“, heißt es, besonders die IT-Branche und der Tourismus. In der Industrie dagegen planen Unternehmen aller Branchen, künftig mit weniger Mitarbeitern auszukommen.
Geburtenstarke „Babyboomer“ gehen in den nächsten Jahren in Rente
Die Arbeitslosigkeit dürfte also 2024 etwas steigen. Zugleich gibt es eine langfristige Entwicklung, die dem zum Teil entgegenwirkt: das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer“ aus dem Berufsleben, also der zwischen Ende der 1950er Jahre und 1970 Geborenen. Mehr als 15 Millionen Menschen, die potenziell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, erreichen in den nächsten Jahren das Rentenalter. Die in die Berufe drängenden Jahrgänge der jungen Leute sind aber deutlich kleiner: Rein rechnerisch schrumpft das deutsche Arbeitskräftepotenzial um über fünf Millionen Menschen.
Beschäftigte werden also knapp in Deutschland. Entgegenwirken lässt sich dem bekanntlich durch gezielte Zuwanderung von Arbeitskräften und eine noch stärkere Erwerbsbeteiligung von Älteren und Frauen. So kam letztes Jahr der neue Rekord bei den Erwerbstätigen zustande.
Auf Dauer lässt sich der demografiebedingte Arbeitskräfteschwund so aber nicht mehr ausgleichen, da sind sich Schäfer und IAB-Experte Weber einig. Die Zuwanderung lässt zu wünschen übrig, 80 Prozent der Frauen arbeiten bereits – das lässt sich kaum noch steigern –, und die von Arbeitgebern schon lange geforderte verlängerte Lebensarbeitszeit will die Politik nicht anpacken.
Mehr als jeder Sechste hat keinen Beruf erlernt
Gebe es weniger Beschäftigte, müsse die Wirtschaft über den technischen Fortschritt wachsen, hofft IAB-Experte Weber: über Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz, dafür braucht es sehr gut ausgebildete Fachkräfte.
Doch da sieht es nicht ganz so gut aus. Es gibt zwar immer mehr dual Studierende, aber weniger Azubis. Zugleich wachse der Anteil der Ungelernten, warnt Weber: „Im Alter von 20 bis 34 Jahren hat heute mehr als jeder Sechste keinen Beruf erlernt!“ Für diese jungen Leute brauche es „noch mehr niederschwellige Angebote“. Damit sie einsteigen, erste Berufsmodule erlernen, arbeiten gehen, Erfahrung sammeln, um dann einen Abschluss zu erwerben. Denn schon jetzt steht fest: Brauchen können wir sie alle.
Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.
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