Es war ein emotionaler Moment, als Hesse Lignal kurz vor Weihnachten die letzten Tonnen Nitrocelluloselacke produzierte. „Mit diesen Lacken hat mein Urgroßvater 1910 das Unternehmen Hesse gegründet – damit sind wir groß geworden“, erinnert sich Hanna Hesse, Vertreterin der vierten Generation der Unternehmerfamilie und Leiterin des Prozessinnovationsteams. Die 36-jährige Führungskraft arbeitet seit zwölf Jahren im Familienunternehmen. Für sie wie für die ganze Belegschaft war der Abschied vom Nitrolack ein einschneidendes Erlebnis.

Nachhaltige Materialien sind die Zukunft

Doch der Schritt war richtig. Diese Lacke enthalten einen besonders hohen Anteil an Lösemitteln. Hesse Lignal hat sich vor drei Jahren entschieden, bis zum Jahr 2030 nach und nach alle Produkte auf Lösemittel-Basis gegen nachhaltige Alternativen wie Hydro- und UV-Lacke und natürliche Öle auszutauschen. Ziel ist es, die Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen (VOC) zu senken.

Wasserbasierte Lacksysteme und solche aus nachwachsenden Rohstoffen wie pflanzlichen Öle, Zellulose und Bienenwachs hat die Firma aus Hamm schon seit Jahrzehnten im Portfolio, etwa die Marke Proterra. Lange Zeit waren sie jedoch nur etwas für die Öko-Nische. Lösemittelhaltige Lacke und Beizen sind günstiger und lassen sich schneller verarbeiten.

Doch die Zeiten ändern sich. Immer mehr Menschen wollen wissen, wie ihre Möbel, Türen und Holzböden hergestellt werden und welche Stoffe sie ausdünsten. Öffentliche Bauprojekte setzen zunehmend auf nachhaltige Materialien. „Wer solche Aufträge bedienen will, muss sich mit dem Thema auseinandersetzen“, sagt die Prokuristin Hesse. Und auch eigene Mitarbeiter fragten, wann Hesse Lignal sich von den Lösemitteln trennen will.

„Wir sind wahrscheinlich die Ersten in der Branche, die Lösemittel ganz abschaffen möchten. Wir wollten nicht einfach eine neue grüne Linie entwickeln, sondern uns komplett umstellen. Intern haben wir viel darüber diskutiert, ob das zu mutig ist. Aber es war die richtige Entscheidung: Nachhaltige Lacksysteme haben dadurch einen Schub bekommen“, so Hesse.

Kleine agile Teams über Abteilungsgrenzen hinweg loten die neuen Möglichkeiten aus: Wie trocknen Hydrolacke am besten? Wie geht die beliebte Metallic-Beschichtung auf Wasserbasis?

Hauseigenes Innovationszentrum

Im Innovationszentrum des Lackherstellers können Kunden aus Industrie und Handwerk die wasserbasierten und die UV-härtenden Produkte an ihren Werkstücken testen und selbst kreative Ideen entwickeln. Sascha Hoffmann, Leiter des Proterra Farb- und Beizsysteme-Labors, weiß: „Der Kunde braucht einen Aha-Effekt!“

Die neuen wässrigen Lacke sind anspruchsvoller in der Verarbeitung, erfordern andere Trocknungsparameter und Reinigungsmittel. Aber sie haben auch Vorteile: Sie sind ergiebiger, was Material spart.

Stromversorgung mit erneuerbaren Energien

Zudem sind weniger Arbeitsschutz- und Brandschutzmaßnahmen sowie Mitarbeiterschulungen zum Umgang mit Gefahrstoffen erforderlich. Und die Lacke sind beinahe geruchlos.

Besonders wichtig ist es, die Handwerksbetriebe zu überzeugen. Denn die Industrie hat klare Vorgaben zum Einsatz umweltfreundlicher Materialien: „Die Küchen- oder Autohersteller sind aufgrund von Regularien eher gezwungen, auf umweltfreundliche Produkte umzustellen. Aber kleine Handwerksbetriebe haben diesen Druck noch nicht“, so Hoffmann.

Man muss ihnen daher die Vorteile vor Ort vorführen. Hanna Hesse: „Sowohl unser Außendienst als auch die Kollegen aus dem Fachlabor betreuen unsere Kunden bei der Umstellung. Und wir bleiben so lange, bis alles läuft.“

Der Nachhaltigkeitsgedanke spiegelt sich nicht nur im Produktportfolio wider: Hesse Lignal stellt auch die Heizung und die Stromversorgung am Standort Hamm auf erneuerbare Energien um und legt sich eine Pkw-Flotte mit E-Antrieb zu. „Das Unternehmen weiter wachsen zu lassen, nachhaltig aufzustellen und in die nächste Generation zu führen: Das ist das große Ziel“, sagt Hesse.

Hesse Lignal

  • 1910 wurde das Familienunternehmen in Hamm gegründet.
  • Das Unternehmen gehört zu den Marktführern bei Lacken und Beizen für den Innenbereich und beliefert Industrie, Fachhandel und Handwerk weltweit.
  • 450 Mitarbeitende und Azubis arbeiten im Unternehmen, davon rund 400 in Hamm.
  • Der Jahresumsatz beträgt bis zu 110 Millionen Euro.
Matilda Jordanova-Duda
Autorin

Matilda Jordanova-Duda schreibt für aktiv Betriebsreportagen und Mitarbeiterporträts. Ihre Lieblingsthemen sind Innovationen und die Energiewende. Sie hat Journalismus studiert und arbeitet als freie Autorin für mehrere Print- und Online-Medien, war auch schon beim Radio. Privat findet man sie beim Lesen, Stricken oder Heilkräuter-Sammeln.

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