Remscheid. „Berndchen, mach keinen Blödsinn!“ Das hatte Clara Schumacher ihrem Patenkind mit auf den Weg gegeben, als sie Bernd Schniering Anfang der 1980er Jahre die Geschäftsführung ihrer Firma Schumacher Precision Tools GmbH übertrug.

Damals dachte noch niemand an Industrie 4.0. Doch der frisch promovierte IT-Spezialist für digitale Prozesslenkung machte sich auf den Weg, den Remscheider Betrieb von den analogen Fesseln zu befreien. Zu Recht gilt er heute als Vorreiter bei der Digitalisierung des Mittelstands.

Variantenvielfalt verdoppelt sich alle zehn Jahre

Schniering erinnert sich: „Damals begann die Variantenvielzahl bei unseren Bohrwerkzeugen zu explodieren. Seither verdoppelt sie sich alle zehn Jahre, während sich die Losgröße bei den Bestellungen im gleichen Zeitraum halbiert“, so der geschäftsführende Gesellschafter (CEO). Obwohl 1984 ein simpler Monitor 22.000 D-Mark kostete, setzte er auf Digitalisierung. Alle Prozesse – vom Auftragseingang über die 3-D-Simulation des Werkzeugs, Qualitätssicherung, Produktion, Maschinenüberwachung und -wartung bis zur Auslieferung der fertigen Produkte – sollten digital abgebildet werden.  

Nach vier Jahrzehnten ist Schumacher am Ziel. Künstliche Intelligenz (KI) – also ein Rechnersystem, das selbstständig lernt – macht Nachfragevorhersage auf Basis von Daten aus der Vergangenheit möglich, sichert die hohe Qualität und sagt Probleme in der Fertigung voraus.

50.000 unterschiedliche Werkzeuge im Angebot, Tendenz steigend

Während Deutschland über die Digitalisierung von Schulen und Bürokratie diskutiert, jonglieren sie in Remscheid mit Big Data und KI: 50.000 unterschiedliche Werkzeuge hat die Firma im Angebot, jedes wird durch 200 Merkmale definiert. Macht zehn Millionen Daten. Millionen weitere liefern vernetzte Maschinen. Alles in Echtzeit. Alles bis ins Detail auswertbar. Vom Bestelleingang bis zum Zeitpunkt, an dem die ersten Späne fliegen, vergehen nur 60 Minuten!

Um das Ganze zu verdeutlichen, ein Beispiel aus der Party-Welt: 50.000 Menschen sind zum Mega-Event geladen. Jeder Einzelne teilt namentlich mit, was er gern essen und trinken möchte, wie viel, zu welcher Zeit, an welchem Tisch und mit welchen Sitznachbarn. Insgesamt gibt jeder 200 Wünsche an. Und meldet natürlich auch, ob er mit dem Auto kommen will, denn Parkplätze sind rar. Kurz vor der Party sagen dann 1.000 Gäste ab. Binnen Sekunden ermittelt die KI des Veranstalters, welche Mahlzeiten und Getränke zu reduzieren sind und wie viele Parkplätze jetzt frei werden.

„10 Millionen Daten haben wir allein für unsere Bohrwerkzeuge hinterlegt.“

Bernd Schnierung, CEO

Zurück zu Schumacher: 45 Mitarbeiter produzieren im Jahr 1,5 Millionen Werkzeuge und erwirtschafteten so im vergangenen Jahr 9 Millionen Euro. 13 Prozent des Umsatzes investiert das Unternehmen seit acht Jahren in Forschung und Entwicklung – mehr als das Dreifache des bundesdeutschen Durchschnitts.

Der Geschäftsführer freut sich: „In analog arbeitenden Betrieben betragen die Komplexitätskosten 40 Prozent, bei uns nur 10.“ Komplexitätskosten sind Mehrkosten, die durch eine zunehmende Variantenvielfalt entstehen. „Diese 30 Prozentpunkte Differenz entscheiden über Sein oder Nichtsein einer Firma.“

Zusammenarbeit mit der Wissenschaft

Teil des Erfolgs der Remscheider ist die GAP Gesellschaft für angewandte Prozesslenkung. Acht Ingenieure, Betriebswirte und Prozessanalytiker entwickeln in diesem Thinktank neue digitale Anwendungen gemeinsam mit der RWTH Aachen, der TU Dortmund und der Uni Stuttgart.

Das in der Theorie Erdachte wird in Software umgesetzt und in der Firma ausprobiert. Ziel: die Produktion noch schneller machen, etwa durch das Drucken von Werkzeugen. Schon heute erhalten Armaturen- und Autohersteller sowie deren Zulieferer, aber auch die Großen der Energiebranche maßgeschneiderte Dienstleistungen, generiert aus dem Datenpool im Bergischen. Dazu gehören detaillierte Infos zum Werkzeug und dessen Anwendung.

2020 bekam Bernd Schniering unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier den Digital Champions Award (DCA). Ein Ritterschlag nach mehr als vier Jahrzehnten digitaler Reise. Trotzdem sind Block und Bleistift nach wie vor Schnierings liebstes Arbeitsgerät. Aus der Hand legt er es nur, wenn Clara Schumacher – mittlerweile 97 Jahre alt – ihr Berndchen in der Firma besucht. 

Das ist KI

Künstliche Intelligenz (KI) ist der Versuch, menschliches Lernen und Denken auf den Computer zu übertragen und ihn intelligent zu machen. So kann ein Rechner selbstständig Antworten finden und Probleme lösen.

Die Basis sind riesige Datenmengen, in denen der Computer bestimmte Strukturen herausliest. Beispiele: Kameras identifizieren Menschen, Kühlschränke bestellen Nachschub, Autos fahren autonom, und Maschinen erkennen zielsicher Tumore.

In die Zukunft denken – das kann die KI noch nicht. Das Wissen, mit dem sie arbeitet, basiert auf der Vergangenheit. Und doch hat sogenannte „schwache KI“ unseren Alltag bereits verändert. Fragen Sie mal Siri oder Alexa …