Neustadt. In seinem Job als Wirtschaftsinformatiker neigt Thorsten Traupe eher nicht zu Emotionen. Doch als der Leiter der IT-Infrastruktur der Sennheiser electronic GmbH in der Wedemark kürzlich den Roboter „Avatar 1“ im Unterricht seiner ehemaligen Schule sah, war er gerührt. Der 58-Jährige stand im Mittelpunkt der feierlichen Übergabe des Roboters an die Kooperative Gesamtschule (KGS) Neustadt am Rübenberge. „Ein bisschen Stolz schwingt mit“, sagte er. „Ich habe Gänsehaut!“

Kein Wunder: Einige 100 Stunden Arbeit hat der Vater von drei Kindern in das Projekt investiert. Als ehrenamtlicher Elternratsvorsitzender führte er unzählige Telefonate mit Politikern und Verwaltungsmitarbeitern, damit die KGS endlich ans Glasfasernetz angeschlossen wird. Über seinen Arbeitgeber stellte Traupe schließlich den Kontakt zur Stiftung NiedersachsenMetall her, die den Roboter spendete.

Der Schüler steuert, ob „AV1“ sprechen oder lachen soll

„AV1“, wie ihn die Schüler liebevoll nennen, ist so groß wie eine Tüte Mehl und wirkt auf den ersten Blick ein bisschen wie eine Buddha-Statue. In Aktion kann er lustig oder schlecht drauf sein. Er nimmt stellvertretend für erkrankte Schüler, die zu Hause oder im Krankenhaus das Bett hüten müssen, am Unterricht teil. Dabei steckt hinter AV1 keine künstliche Intelligenz, sondern der erkrankte Schüler selbst: Er steuert aus der Ferne, ob der Roboter für ihn sprechen, lachen oder sich melden soll. AV1 lässt sich stummschalten oder lauter und leiser stellen.

„Ich habe viel über das System Schule und die Schwerfälligkeit der Verwaltung gelernt.”

Thorsten Traupe, Sennheiser electronic

Bis es so weit war, musste Thorsten Traupe eine Menge Arbeit investieren. „Ich habe viel über das System Schule und die Schwerfälligkeit kommunaler Verwaltungen gelernt“, sagt er im Rückblick. Er vernetzte sich mit Elternräten anderer Regionen, lernte von deren Erfahrungen.

Die wichtigste Erkenntnis des IT-Fachmanns: Mit der Anschaffung einer Hard- und Software allein ist es bei einem Digitalprojekt in der Schule nicht getan. Denn damit Schüler und Lehrer damit arbeiten können, braucht es eine leistungsstarke Infrastruktur – zum Beispiel Glasfaser für schnelles Internet. „Ich habe viele dicke Bretter gebohrt und einige Tricks angewandt, um Tempo zu machen“, sagt Traupe. An die Umsetzungsgeschwindigkeit, die er von seinem Arbeitgeber Sennheiser kannte, war bei diesem Projekt nicht zu denken

Datensichere Live-Übertragung aus dem Klassenzimmer

3.500 Endgeräte hat die KGS Neustadt. Damit die problemlos arbeiten, ist schnelles Internet nötig. Natürlich auch für den AV1. Seine Verbindung ins Krankenhaus oder ins heimische Kinderzimmer läuft über das WLAN eines Tablets oder Handys. Über die eingebaute Kamera überträgt der Roboter live aus dem Klassenzimmer. Mit einem Wisch auf dem heimischen Handy lässt sich die Blickrichtung steuern: Soll AV1 im Klassenzimmer umherschauen, den Blick zu den Mitschülern richten – oder doch lieber auf die Tafel?

In puncto Datenschutz ist das kein Problem: Das Gerät zeichnet kein einziges Bild auf. Aber wie ist das für die Mitschüler? Verunsichert ein Roboter als Sitznachbar?

Auch daran hat der Elternratsvorsitzende Traupe gedacht. Gemeinsam mit Sennheiser-Ausbildungsleiter Christoph Knake hat er den sogenannten Telepräsenz-Roboter vor seinem ersten Einsatz in einer neunten Klasse getestet: Wie funktioniert die Steuerung? Wo sind seine Grenzen im Schulalltag? Das Ergebnis war positiv: Die Neuntklässler fanden den neuen Mitschüler cool. „Man gewöhnt sich ziemlich schnell dran, das ist wie ein neues Handy“, sagt die 15-jährige Lena Wemlinger.

Moderne Ausstattung im Schulalltag ist ein wichtiges Anliegen der Stiftung NiedersachsenMetall, die den Roboter spendete. Geschäftsführer Olaf Brandes und sein Team helfen deshalb vielen Schulen in Niedersachsen. „Bildung ist der zentrale Faktor für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts“, sagt er. „Das gilt besonders in Zeiten des Fachkräftemangels.“

Praxisverbund Neustädter Modell

Die KGS Neustadt kooperiert im „Praxisverbund Neustädter Modell“ eng mit der benachbarten Berufsbildenden Schule (BBS). Die Schüler sind zwei Tage pro Schulwoche an der BBS und erhalten ein gemeinsames Zeugnis beider Schulen. Mit dieser Doppelqualifikation haben sie beste Chancen auf hochwertige duale Ausbildungsverträge. Das Neustädter Modell wird bundesweit beachtet und ist preisgekrönt: 2009 bekam die KGS von der Hertiestiftung den 1. Bundespreis als „Beste Schule, die zur Ausbildungsreife führt“ , 2013 den „Deutschen Arbeitgeberpreis für Bildung“ im Bereich „Schulische Bildung“.

Werner Fricke
Autor

Werner Fricke kennt die niedersächsische Metall- und Elektro-Industrie aus dem Effeff. Denn nach seiner Tätigkeit als Journalist in Hannover wechselte er als Leiter der Geschäftsstelle zum Arbeitgeberverband NiedersachsenMetall. So schreibt er für aktiv über norddeutsche Betriebe und deren Mitarbeiter. Als Fan von Hannover 96 erlebt er in seiner Freizeit Höhen und Tiefen.

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