Wuppertal. In der Produktionshalle wickeln Mitarbeiter mehrere Rollen Papier ab und führen die Enden über ein Schwefelsäurebad zusammen: „Die Säure und ein leichter Anpressdruck verschweißen und vernetzen die Fasern und die Lagen untereinander, sodass ein fester Schichtstoff, Hydratcellulose, entsteht“, sagt Reinhold Sicken, Betriebsleiter des Chemieunternehmens Sachsenröder, bei einem Besuch von aktiv. Die Säure wird vollständig ausgewaschen und wiederverwendet, so entsteht ein Bio-Kunststoff auf rein pflanzlicher Basis.
Feine Samenhärchen der Baumwoll-Blüte sind die Basis
Der 58-jährige Ingenieur für Verfahrenstechnik arbeitet schon seit gut drei Jahrzehnten hier, seit über 20 Jahren leitet er den Betrieb mit 68 Beschäftigten. Er kümmert sich darum, dass die Produktion im Dreischichtbetrieb rundläuft. „Als ich hier in den 90ern angefangen habe, wurde noch viel von Hand gemacht“, erinnert sich Sicken. „Heute haben wir zentral gesteuerte Antriebe, und auch die Digitalisierung ist im Gange. Die Prozesse werden bei uns ständig optimiert.“
Seit 1881 stellt das Familienunternehmen an der Wupper Vulkanfiber her („Savutec“). Weltweit ist es der einzige Produzent, der umweltfreundlich ausschließlich Schwefelsäure nutzt. Gemacht wird die Vulkanfiber aus Zellstoff aus zertifiziertem Holz –sowie aus den feinen Samenhärchen der Baumwoll-Blüte: Zum Spinnen sind sie zu kurz und für die Textil-Industrie ungeeignet.
Die Lieferanten verarbeiten die Fasern zu hochwertigen Rohpapieren, die bei Sachsenröder anschließend einen chemischen Prozess durchlaufen und dabei zu Kunststoff werden: „Ein Naturprodukt ohne jegliche Zusatzstoffe“, betont Sicken.
Vulkanfiber ist biologisch rückstandsfrei abbaubar und braucht keine Spezialbehandlung
Reinhold Sicken, Produktionsleiter, Wuppertal
Der Wunder-Werkstoff ist leicht, stabil, isolierend, funkenlöschend, extrem zugfest und belastbar, widersteht Ölen, Fetten, verdünnten Säuren und Laugen. Man kann ihn biegen, prägen, stanzen, fräsen, schleifen, lasern, hobeln, kleben, beschichten und bedrucken. „Das ist leider wenig bekannt“, bedauert der Ingenieur.
Mitte letzten Jahrhunderts verdrängten billigere neue Kunststoffe den Klassiker, den früher wohl jeder zu Hause hatte. Sicken bewahrt in seinem Büro einen alten Koffer auf: Früher machte man das Reisegepäck aus Vulkanfiber. Wie auch Lampenschirme oder künstliche Wurstdärme. Heute sind die Hersteller von Hochleistungs-Schleifscheiben der größte Abnehmer für die belastbare Trägerschicht. Möbel- und Autoproduzenten verwenden Savutec wiederum bei der Herstellung von Holzdekoren als Träger- und Verbundmaterial.
Ein Echtholzfurnier ist brüchig: „Alleine lässt es sich kaum in Form bringen“, erklärt Sicken. „Aber die Vulkanfiber zieht das Furnier mit.“ So entstehen bei den Kunden zum Beispiel edle Autoarmaturen. Einsatzgebiete gibt es zudem in der Medizin und Filtrationstechnik.
Material auch für Lebensmittel
Sicken und sein Kollege, Forschungsleiter Ahmed Rabhi, trommeln fleißig bei den Hochschulen, auf Messen und anderen Veranstaltungen für den „plastikfreien Kunststoff“: Man kann ihn nach Gebrauch auf den heimischen Komposthaufen werfen.
„Die Vulkanfiber ist biologisch zu 100 Prozent abbaubar und braucht dafür keine Spezialbedingungen“, so Sicken. Recyceln lässt sie sich auch und zerkleinert als Füllstoff nutzen. „Aufgrund der zunehmenden Umweltverschmutzung hoffen wir, vom Klimaschutz und dem Umdenken der Politik zu profitieren.“
Es gibt viele Ideen, was sich aus Vulkanfiber machen ließe: Schallschutz, Lampen, Skateboards, ja sogar Mode. Vielversprechend sind auf jeden Fall Verpackungen für Lebensmittel, weil der Handel dringend Ersatz für das Plastik sucht. Sachsenröder hat schon die entsprechende Zulassung beantragt.
Nachgefragt
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Ich habe eine Ausbildung als technischer Zeichner. Nach dem Wehrdienst fragte ich mich: Weiter arbeiten oder studieren? Mit Kollegen schrieb ich mich für Verfahrenstechnik ein. Das war ein aufstrebender Studiengang.
Was reizt Sie am meisten?
Die Vielfalt. Es gibt immer wieder neue Prozesse, die auf ihre Machbarkeit untersucht werden müssen.
Worauf kommt es an?
Schnelle Auffassungsgabe, Interesse an neuen Techniken, Organisationstalent und Leistungsbereitschaft.
Matilda Jordanova-Duda schreibt für aktiv Betriebsreportagen und Mitarbeiterporträts. Ihre Lieblingsthemen sind Innovationen und die Energiewende. Sie hat Journalismus studiert und arbeitet als freie Autorin für mehrere Print- und Online-Medien, war auch schon beim Radio. Privat findet man sie beim Lesen, Stricken oder Heilkräuter-Sammeln.
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