Aachen. „Keine Sorge, der tut nichts“, lacht Leonhard Henke in Richtung AGV I. Der kniehohe Transportroboter hat gerade einen gekonnten Stopp hingelegt: Auf seiner Tour durch die weitläufige Werkhalle war ihm ein neugieriger Besucher in die Quere gekommen. IT-Experte Henke, sozusagen das Herrchen von AGV I, lobt das selbstfahrende Gefährt als etwas ganz Besonderes: „Seine Steuerung nutzt die neue, superflotte 5G-Funktechnik. Die macht ihn schneller und unabhängiger als alle seine bisherigen Vorgänger.“ Er reagiert in Millisekunden und kann sogar um die Ecke schauen – weil er mit Laserscannern an den Wegkreuzungen vernetzt ist, erklärt Henke. „Und aus all diesen Gründen ist er auch wirtschaftlicher zu betreiben.“

5G, das ist der Nachfolger des bisherigen Funkstandards LTE (4G). Dessen Geschwindigkeit toppt er um ein Vielfaches. Immer mehr Anwendungen damit entwickeln sich zur Marktreife.

5G gibt kräftigen Schub für die Fabrik der Zukunft

Der mit Sensoren, Kameras und Antennen vollbepackte Minitransporter ist ein Paradebeispiel für die betrieblichen Anwendungsmöglichkeiten von 5G. Diese werden weltweit mit Volldampf entwickelt – in Deutschland unter anderem in Aachen. Hier am Campus Melaten steht Europas größte 5G-Modellfabrik, ein Technologiepark mit modernen Werkhallen, Büros und Schulungsräumen.

An Bord sind unter anderem Forschende der Fraunhofer-Gesellschaft und der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, Mobilfunkausstatter und namhafte Industrieunternehmen aus ganz Deutschland. Erste Ergebnisse lassen auch Expertenherzen höherschlagen: Sie erhoffen sich durch 5G kräftigen Schub für die leistungsstarke Fabrik der Zukunft, Schlagwort: Industrie 4.0. Ein anderer Hoffnungsträger aus der Aachener Zukunftswerkstatt ist ein autonomer Montageroboter. Mit seinem beweglichen Greifarm entnimmt er den Magazinen von Lieferrobotern Verbindungsschrauben, umkurvt ein halb fertiges Lkw-Chassis und setzt sie an der richtigen Stelle ein.

Schäden vermeiden, Nachbearbeitung ersparen

Orchestriert werden alle Abläufe mithilfe von 5G-Funk, erklärt Abteilungsleiter Amon Göppert: „Wir haben Funkverbindungen, die so leistungsstark und zuverlässig sind wie sonst nur per Kabel. Und wir können auf kleiner Fläche viel mehr Geräte gleichzeitig betreiben, als das etwa mit heutigem WLAN oder Bluetooth-Verbindungen möglich wäre.“ Eine völlig neue Mobilität und Flexibilität in der Montage sei erreichbar.

Reaktionen in „Echtzeit“, unbedingte Verlässlichkeit, ein rekordverdächtiger Datendurchfluss – und das alles drahtlos: Das sind entscheidende Vorteile, die sich auch für die laufende Produktionsüberwachung nutzen lassen.

Am 5G-Campus formen vollautomatische CNC-Fräsmaschinen aus Metallblöcken hochpräzise Turbinenräder, sogenannte Blisks, mit Schaufeln und Scheiben aus einem Stück. „Beim Fräsen könnten Schwingungen zu Schäden führen, die eigentlich aufwendige Nachbearbeitungen erforderlich machen“, erklärt Physikerin Sarah Schmitt. Nicht so mit 5G: Drahtlose Sensoren überwachen den Fertigungsprozess direkt am Werkstück. Unregelmäßigkeiten werden sofort erkannt. „Bisher war das praktisch nicht möglich“, sagt Schmitt.

Selbst herausfordernde Fertigungsprozesse besser beherrschbar

Der Fortschritt durch 5G ist rasant: „Das ist eine Schlüsseltechnologie“, urteilt der Leiter des 5G-Industriecampus, Niels König vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie. Seine Vision: „5G schafft allgegenwärtige Verbindungsmöglichkeiten für alles, was in der Produktion Daten liefert. Selbst herausfordernde Fertigungsprozesse werden viel besser beherrschbar.“

Erste Anwendungen haben bereits ihren Weg in die Praxis gefunden. Verschiedene Unternehmen testen sie auf Herz und Nieren. In einer Fertigungshalle im Schwäbischen beispielsweise sind Hunderte Mikrofone drahtlos miteinander vernetzt.

Ziel ist, frühzeitig zu „hören“, wo eine Maschine auszufallen droht. Die Mikrofone miteinander zu verbinden, ist mit gängigen Mitteln nicht möglich, wohl aber mit 5G. Und das äußerst energieschonend: Pro Mikrofon muss nur alle zehn Jahre die Batterie gewechselt werden.

Bessere Zusammenarbeit von Mensch und Roboter

Selbst die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter kann deutlich verbessert werden. Ausprobiert wird das bereits in der Automobil-Industrie, bei der Montage von Airbags: Kommen sich Roboterarm und eine menschliche Hand zu nahe, stoppt der Roboter sofort.

Luftfahrtgesellschaften wiederum kommt die erstklassige Bildqualität zugute, die das 5G-Netz in einer Flugzeughalle ermöglicht: Bei der regelmäßigen Überprüfung von Triebwerken machen Wartungsmitarbeiter jetzt per Smartphone Videoaufnahmen vom Innenleben der Aggregate. Live und unterbrechungsfrei dabei sind Experten auf anderen Kontinenten. Die Bildqualität ist so hoch, dass sie selbst kleinste Kratzer entdecken könnten. In Betrieb gegangen ist das neue Funknetz hier als eines der ersten bundesweit Anfang 2020. Kurze Zeit später waren wegen Corona keine Dienstreisen mehr möglich. Dank 5G ging die Arbeit dennoch weiter.

Selbst in Richtung „erweiterte Realität“ (Augmented Reality) tun sich neue Perspektiven auf – wenn etwa im Sichtfeld von 5G-Datenbrillen Informationen über laufende Fertigungsprozesse in Echtzeit eingeblendet werden. So können Maschinen optimal überwacht und gewartet werden.

Die Anwendungsmöglichkeiten für 5G sind denkbar vielfältig, unterstreicht der Leiter des Aachener 5G-Campus, Niels König. „Ob Drohnen, Kräne, die gesamte Warenlogistik – alles kann dadurch viel leistungsfähiger werden.“ Lange werden wir auf die nächsten Erfolgsmeldungen nicht warten müssen, ist sich König sicher: „Der Aufbau von 5G-Netzen läuft in ganz Deutschland ja bereits auf Hochdruck.“

Das bringt 5G für Verbraucher

Video-Streaming wird viel schneller. Mit 4G dauert der Download eines Spielfilms aufs Smartphone oder Tablet Minuten. Per 5G geht das binnen Sekunden.

Virtuelle Welten entstehen, wenn große Datenmengen in Echtzeit verarbeitet werden. Mobil funktioniert Virtual Reality nur mit 5G. Nicht nur Gamer dürfen sich freuen.

Autonomes Fahren rückt mit 5G näher, etwa bei Zügen oder Lkws auf abgetrennten Wegen. Bei Pkws im wuseligen Stadtverkehr wird das noch dauern – auch wegen der vielen Autos ohne 5G.

Der 5G-Industry Campus Europe

Einsatzmöglichkeiten des neuen Mobilfunkstandards 5G für industrielle Zwecke praxisnah zu erforschen und zu testen – das ist Ziel des 5G-Industry Campus Europe in Aachen. Dafür verfügt er – als europaweit erster Standort seiner Art – über ein umfassendes 5G-Netzwerk. Es erstreckt sich über rund einen Quadratkilometer Außenfläche und mehrere Produktionshallen mit zusammen 7.000 Quadratmetern. Federführend ist das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT. Von der Rheinisch-Westfälischen Technische Hochschule Aachen (RWTH Aachen) hinzu kommen drei Projektpartner – das Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR), das Werkzeugmaschinenlabor WZL sowie das IT Center der RWTH. Mit an Bord ist zudem der Mobilfunkausrüster Ericsson.

Stephan Hochrebe
aktiv-Redakteur

Nach seiner Redakteursausbildung absolvierte Stephan Hochrebe das BWL-Studium an der Universität zu Köln. Zu aktiv kam er nach Stationen bei der Funke-Mediengruppe im Ruhrgebiet und Rundfunkstationen im Rheinland. Seine Themenschwerpunkte sind Industrie und Standort – und gern auch alles andere, was unser Land am Laufen hält. Davon, wie es aussieht, überzeugt er sich gern vor Ort – nicht zuletzt bei seiner Leidenschaft: dem Wandern.

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