Augsburg. Wenn Julian Kimmig mit dem Auto nach Hause kommt, dürfte er sich manchmal fühlen wie der König von Augsburg. Während andere in der City um Parklücken ringen, hält die Stadt für Kimmig stets ein Plätzchen frei – und das gratis. Grund: Der 38-Jährige nutzt das Carsharing-Angebot der Augsburger Stadtwerke. Und fährt gut damit. „Man spart Geld und muss sich keinen Kopf um Werkstatttermine oder den Tüv machen.“ Seine Fahrten bucht Kimmig bequem per App. Wenn mal kein Wagen da ist, nutzt er Bus, Bahn oder E-Bike. Eigenes Auto? „Abgeschafft. Gelebte Verkehrswende!“, grinst Kimmig, schlägt die Fahrertür zu – und läuft heim.

Schlechte Busverbindungen auf dem Land

Für Menschen wie Julian Kimmig mag das mit der Verkehrswende also schon abgehakt sein. Für die allermeisten im Land sieht es anders aus. Und das wird schon in ein paar Tagen wieder sehr deutlich werden. Ab Mai nämlich gilt das neue „Deutschland-Ticket“ – die 49-Euro-Flatrate für den gesamten Nahverkehr. Und mit der kuscheligen Enge in den Zügen dürfte auch das Thema Mobilität Fahrt aufnehmen: Wie kommen wir zukünftig von A nach B? Schnell, klimafreundlich, mit weniger Staus oder Verspätungen als heute. Wie bringt man nachhaltige Mobilität aufs Land? Dorthin, wo man eher auf Elvis trifft als auf eine gute Busverbindung? Und wo man nicht mal eben auf alternative Verkehrsträger ausweichen kann, so wie Julian Kimmig in Augsburg.

Klar ist: Es muss sich hierzulande was ändern. Und das dringend. 2022 entfielen gut 80 Prozent des Personenverkehrs aufs Auto. 150 Millionen Tonnen CO2 setzte der Verkehrssektor frei. Um das kurz einzuordnen: Laut Bundesklimaschutzgesetz darf der Verkehr schon 2030 eigentlich nur noch 84 Millionen Tonnen ausstoßen. Zwar soll das Gesetz jetzt entschärft werden. Aber sinken müssen die Emissionen dennoch. Deutlich. Nur: Wie kriegen wir das hin?

Ein Verbrenner-Aus wird da nicht reichen. „Mit Elektroautos allein wird der Verkehrssektor die Klimaziele verpassen“, urteilt eine aktuelle Studie der Beraterfirma EY. Und fordert gleich ein grundsätzliches Umparken im Kopf: Es brauche nicht weniger als „eine Trendwende hin zu nachhaltiger Mobilität“. Puh. Das klingt anstrengend.

Wie gut, dass der Berliner Verkehrs- und Zukunftsforscher Stefan Carsten an der Stelle mal kräftig auf die Optimismus-Hupe haut. „Zur Verkehrswende ist es noch ein weiter Weg. Aber sie wird gelingen.“

Mobilitäts-Flatrates werden sich durchsetzen

Carstens Überzeugung: Erforderlich sei ein ganzes Bündel neuer Angebote, im ländlichen Raum wie in den Städten. „Gerade jüngere Verkehrsteilnehmer erwarten flexible, unabhängige Mobilität“, so Carsten. „Die wollen heute einen Scooter nutzen, morgen in die Bahn steigen, übermorgen auf ein Leihrad und danach auch gern ein Auto nutzen.“ Carsten, der auch das Bundesverkehrsministerium in Sachen „Öffis“ berät, erwartet quasi Revolutionäres: „Mobilitäts-Flatrates, angeboten sowohl von lokalen ÖPNV- als auch privaten Betreibern werden mehr und mehr Angebote bündeln und ganz unterschiedliche Pakete schnüren.“ Eine Art Netflix für den Nahverkehr also.

Es regt sich tatsächlich was im Land, und schon wieder kommt da Augsburg ins Spiel. Dort nämlich bieten die Stadtwerke Augsburg (SWA) entsprechende Abo-Modelle bereits an. Bus und Bahn, Freiminuten für Bike-und Carsharing – alles drin. Laut SWA-Chef Walter Casazza ist das Angebot ein Hit: „Schon zur Testphase haben wir sehr viel mehr Interessenten gehabt, als an den Tests teilnehmen konnten.“ Mittlerweile seien viele Augsburger endgültig auf ÖPNV, Carsharing und Rad umgestiegen.

Ohne Auto – in der Stadt ist das leichter

Wie eben Lehrer Julian Kimmig. Als das eigene Familienauto vor einer Weile den Geist aufgab, entschloss sich der zweifache Vater zu einem Experiment. „Wir wollten einfach ausprobieren, ob es ohne Auto klappt.“ Das Ergebnis ist bekannt. „Die Stadtwerke bieten für jeden Anlass das passende Auto, für Urlaub oder Transport was Großes, sonst einen Elektroflitzer.“ Doch Kimmig weiß auch: „Wir wohnen in der Großstadt, da ist es einfacher als auf dem Land, ohne eigenes Auto klarzukommen.“

Ändert sich das denn jetzt? Also, durch das 49-Euro-Ticket? Verkehrsforscher Stefan Carsten holt an der Stelle kurz Luft, bevor er den neuen Abo-Fahrschein verbal hart in die Seile schickt. „Dieses Ticket ist nicht mehr als ein erster Schritt“, schnaubt Carsten. Kaufen werde sich das, wer ohnehin funktionierende Öffis vor der Tür habe. Städter also oder Menschen, die aus dem Speckgürtel in die Großstädte einpendelten. Mehr sei derzeit bei der chronisch unterfinanzierten Bahn schlicht nicht drin. Carsten: „Die Investitionen reichen ja gerade mal, um das System Schiene knapp am Leben zu halten.“

Und was ist jetzt auf dem Land, fernab aller Städte? Vielleicht kommt dort ein Teil der Verkehrswende ja fast lautlos daher. So wie im oberbayerischen Chiemgau. Seit fast einem Jahr flitzen hier fünf elektrische „Rosi“-Minibusse durch die malerische Landschaft um den Chiemsee. Gebucht werden die Shuttles per Rosi-App, nach wenigen Minuten Wartezeit pickt ein Wagen die Fahrgäste an einer der über 600 Haltestellen auf. Ein Algorithmus kombiniert ähnliche Fahrtanfragen und ermittelt die schnellste gemeinsame Route. Insgesamt deckt „Rosi“ so ein 300 Quadratkilometer großes Gebiet ab.

Manche könnten den Zweitwagen hinterfragen

An diesem frühlingshaften Freitagabend ist auch Fahrer Norbert Blanken im Dienst. „Ohne eigenes Auto kam man hier in der Region eigentlich nicht klar, Linienbusse fahren extrem selten“, erzählt Blanken, während er „Rosi“ souverän durch enge Kurven manövriert. Vorhin hat er eine ältere Dame zum Einkaufen gefahren, jetzt steigt ein Mädchen auf dem Rückweg vom Pferdehof zu. „Schnall dich bitte an“, mahnt Blanken noch sanft, dann geht die Tour schon weiter. Standzeiten wie normale Taxis kenne „Rosi“ nicht, sagt er. „Wir sind ständig auf Achse, unser Service wird überragend angenommen.“

Typische ländliche Pendelverkehre, den Weg zur Arbeit etwa, wird ein solcher Shuttle-Service sicher nicht ersetzen können. Und natürlich wird das Gros der Wege auch weiterhin mit dem Auto absolviert werden. Aber so manche Familie könnte durchaus ernsthafter über den Zweitwagen nachdenken.

Mobilität für 200 Millionen Fahrgäste auf dem Land

Unterwegs ist der Dienst im Auftrag des Landkreises Rosenheim. Um die operative Umsetzung aber kümmert sich der Berliner On-Demand-Betreiber „Clevershuttle“, eine Tochter der Deutschen Bahn. Nach eigenen Angaben hat man bereits fünf Millionen Fahrgäste befördert – und 20 Millionen Kilometer elektrisch abgespult. „Das ist ein Qualitätssprung im öffentlichen Nahverkehr“, jubelt Clevershuttle-Chef Bruno Ginnuth. Die Ziele sind ambitioniert: Bis 2030 will er 200 Millionen Passagiere im sogenannten „On-Demand-Ridepooling-Verkehr“ anpeilen. Fast wirkt es wie Ironie: Zumindest auf dem Land braucht es für die Verkehrswende dann eben doch – das Auto.

In der Stadt wie auf dem Land – wie wird’s denn jetzt weitergehen mit dem Verkehr? Antwort: smarter. Digitaler. Elektrisch. Und vernetzt. Doch bis es überall „Netflix für Nahverkehr“ gibt, dauert’s noch Zeit, glaubt Experte Stefan Carsten. „Es braucht viel Zeit, bis sich Mobilitätsverhalten ändert.“ Egal ob Ridepooling, Carsharing, Abomodelle oder E-Scooter, „wir sind überall noch immer in der Experimentierphase, und es wird dauern, bis wir wissen, was bleibt.“

Ulrich Halasz
aktiv-Chefreporter

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher. 

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