Herford. Es kommt durchaus vor, dass Alissa Sekulic einfach vor einer verschlossenen Tür steht, irgendwo in einer Textilfabrik in Bangladesch – mehr als 7.000 Kilometer entfernt von ihrem Arbeitsplatz in Herford. Sekulic ist verantwortlich für Nachhaltigkeitsmanagement, Unternehmensverantwortung und Produktsicherheit beim Hosenspezialisten Brax. „Das steht zwar auch so auf meiner Visitenkarte – aber damit allein öffnen sich solche Türen für mich noch lange nicht“, erklärt die 30-Jährige.

Verständnis für die Menschen zeigen, zuhören, statt den kritischen Kontrolleur zu geben – das sei in solchen Situationen oft der Türöffner. Normalerweise besucht Sekulic mindestens einmal im Quartal ausgewählte Nähereien und Produktionsbetriebe, in denen das mittelständische deutsche Modeunternehmen seine Kollektionen produzieren lässt. Das sind immerhin 80 Betriebe in Asien, Nordafrika, Osteuropa und der Türkei: „Insgesamt entstehen für uns pro Jahr etwa neun Millionen Teile.“

Sie spricht mit Näherinnen und Ausrüstern über ihre Arbeit – und lässt sich auch Fluchtwege zeigen

Sekulic kann zwar keine türkischen Gehaltsabrechnungen oder chinesischen Arbeitsanweisungen lesen. „Aber für so etwas arbeiten wir mit lokalen Auditoren zusammen, die uns regelmäßig Berichte und Zertifikate erstellen.“ Mit ihnen hält sie zurzeit nur per Videokonferenz Kontakt – normalerweise ist sie aber ganz dicht dran!

Und vor Ort lässt sich Sekulic dann immer auch die Fluchtwege zeigen. Denn deren Blockade hatte 2013 in Bangladesch zum bisher schwersten Unglück der internationalen Textil-Industrie geführt: Beim Zusammenbruch der Textilfabrik Rana Plaza nahe der Hauptstadt Dhaka starben über 1.000 Menschen.

Die Brax-Mitarbeiterin besteht auch darauf, Erste-Hilfe-Koffer zu öffnen. Unterhält sich mit Ausrüstern darüber, wie sie im feucht-heißen Klima mit Schutzhandschuhen arbeiten. Oder sie verlangt eben Schlüssel für verschlossene Türen. „Ich melde mich aber vorher immer an: Das schafft Vertrauen und motiviert das örtliche Management, meine Ratschläge umzusetzen.“ Dafür hakt sie nach: Warum hängt denn ein Briefkasten für Kritik der Belegschaft im Aufnahmebereich einer Kamera? Und warum endet das Abluftrohr aus der Produktion über dem Raucherplatz?

Seit dem Unglück 2013 habe sich zumindest bei den Partnern, mit denen Brax zusammenarbeitet, vieles sehr wohl verbessert , betont Sekulic: Arbeitszeiten, Arbeitsschutz, Umwelt- und Sozialstandards. Wobei man etwa beim Thema „gerechte Entlohnung“ weiterhin auf die Kooperation der örtlichen Politik und Gesetzgebung angewiesen sei.

Deutsche Verbraucher sollten ihr Kaufverhalten hinterfragen

Aber auch in Deutschland sieht sie Handlungsbedarf: beim Endverbraucher. Der wolle zwar nachhaltige und mit sozialen Mindeststandards produzierte Kleidung. Solche Ware (beispielsweise von Brax) habe aber ihren Preis – „und das zu akzeptieren, fällt hierzulande vielen noch schwer“. Sekulic hofft, dass mit der Corona-Krise ein Umdenken beginnt: „Im Lockdown haben die Menschen begonnen, ihre Gewohnheiten zu hinterfragen.“ Warum nicht auch das Kaufverhalten? Freilich weiß Sekulic, dass es dafür Geduld braucht.

Geduld lohnte sich auch bei der verschlossenen Tür: Irgendwann tauchte dann doch der Schlüssel auf. Was war hinter der Tür? Ein Abstellraum mit Schrubber und Eimer. Sekulic: „Noch vor fünf Jahren hätten wir vielleicht offene Chemikalienbehälter gefunden …“

Nachgefragt

Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?

Während des Studiums habe ich mich für ethisches Wirtschaften und Nachhaltigkeit interessiert. Das wollte ich auch in meinem Beruf umsetzen – und mache das jetzt seit fünf Jahren bei Brax.

Was reizt Sie am meisten?

Daran mitzuwirken, moderne Standards in sehr fernen Ländern umzusetzen. Eine echte Herausforderung, denn da prallen oft Welten aufeinander.

Worauf kommt es besonders an?

Geduld. Verständnis. Beharrlichkeit.

Bekleidung: Fertigung meistens im Ausland

  • 34,2 Milliarden Euro – das war der Wert der deutschen Mode-Importe 2019
  • 60 Prozent davon kamen aus Asien
  • 6 der 10 wichtigsten Importländer liegen in Asien

Quelle: German Fashion

Anja van Marwick-Ebner
aktiv-Redakteurin

Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.

Alle Beiträge der Autorin