Die Chemieindustrie ist in Bedrängnis: Teure Energie und teure Rohstoffe, ein erheblicher Umsatzeinbruch und hohe Arbeitskosten machen ihr zu schaffen. Unternehmen bauen Stellen ab, wollen verstärkt im Ausland investieren. Beschäftigte bangen um Jobs. Und dann werden auch noch Stimmen laut, die fordern, Produktionsanlagen stillzulegen und so Energie zu sparen …

„Die Chemie-Industrie muss weniger produzieren“, verlangt etwa die Umweltschutzorganisation BUND in der im Herbst vorgelegten Studie „Blackbox Chemieindustrie“. BUND-Geschäftsführerin Antje von Broock sagt: „Zukunftsfähig wird die Branche nur, wenn sie ihren Energie- und Ressourcenverbrauch drastisch und absolut senkt.“ Man müsse darüber reden, „welche Art von Produktion wirklich nötig ist“. Im Fokus der Kritik: energieintensive Großanlagen.

Solche Forderungen gehen einfach darüber hinweg, dass die Chemieindustrie für den Standort Deutschland enorm wichtig ist. Sie versorgt andere Branchen mit unverzichtbaren Vorprodukten, bietet Hunderttausende gut bezahlte Arbeitsplätze – und treibt Recyclingverfahren erfolgreich voran. 

Grundstoffanlagen: Der Standort benötigt Basischemikalien

Die Erzeugung von Grundstoffen erfolgt in Großanlagen – etwa in Erdölraffinerien wie der Mineraloelraffinerie Oberrhein (MiRO) in Karlsruhe oder in den riesigen Steamcracker-Anlagen zum Aufspalten langer Benzinmoleküle der BASF in Ludwigshafen. Diese Großanlagen sind sehr energieintensiv, so die BUND-Kritik. Aber: Auf Basischemikalien, Ethylen und Propylen (für Kunststoffe), Chlor (für Synthesen) oder Ammoniak (für Düngemittel) ist fast die ganze Industrie angewiesen!

„Die Großanlagen können wir deshalb nicht einfach so abschalten“, warnt Henrik Meincke, Abteilungsleiter Volkswirtschaft beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) in Frankfurt. „Viele Branchen brauchen diese Chemikalien und ihre Folgeprodukte. Eine Wertschöpfungskette mit rund 30.000 Substanzen baut darauf auf.“

Dazu gehören Kunst- und Schaumstoffe, Synthese-Kautschuk, Textilfasern, Lacke und Farben. Auto-, Reifen-, Elektro-, Möbelfabriken nutzen die Produkte, Hersteller von Verpackungen, Textilien und Baustoffen sowie die Produzenten von Wasch-, Reinigungsmitteln, Arzneien sowie Kosmetik.

„Stellen wir Grundstoffe nicht selbst her, müssen wir sie oder die Folgeprodukte einführen“, gibt Meincke zu bedenken. „Das erhöht Transportkosten und Lieferrisiken. Damit ist für das Klima nichts gewonnen: Die Energie wird trotzdem verbraucht, nur anderswo.“ Und das wahrscheinlich weniger klimaschonend als bei uns in Deutschland.

Chemieindustrie: Die Produktion geht auch klimaneutral

Der BUND kritisiert, dass sich gar nicht so viel Grünstrom in Deutschland erzeugen lasse, wie für eine klimaneutrale Chemieproduktion nötig wäre. „Das muss auch nicht sein“, hält Jörg Rothermel dagegen, Bereichsleiter Energie beim VCI. Er erklärt: Strom benötige die Chemie-Industrie in Zukunft für zwei Dinge. Erstens, um Anlagen elektrisch statt mit Gas, Öl oder Kohle zu beheizen. „Dafür ist Ökostrom vor Ort nötig“, sagt Rothermel. Zweitens brauche die Chemie Strom, um den Energieträger Wasserstoff herzustellen und das Klimagas CO2 als Rohstoff zu nutzen. „Diesen Wasserstoff wird man auch zu großen Teilen in sonnen- und windreichen Ländern erzeugen und hertransportieren.“ Das vermindert den Strombedarf hierzulande massiv.

Ohne auswärts hergestellten Wasserstoff wäre der Strombedarf in der Tat riesig: 460 bis 500 Milliarden Kilowattstunden würde die Chemie dann im Jahr benötigen, so viel, wie Deutschland derzeit insgesamt verbraucht. Und der Strom-Bedarf wächst ohnehin durch E-Autos und Wärmepumpen. Deshalb muss die Politik ihren Beitrag dazu leisten, dass künftig genug grüner Wasserstoff nach Deutschland gelangt.

    Übrigens: Von 1990 bis 2022 hat die Chemieindustrie ihren Ausstoß von Treibhausgasen um enorme 55 Prozent zurückgefahren, den Energieverbrauch um 22 Prozent. Trotzdem hat sie zugleich die Produktion um 61 Prozent gesteigert!

    Wirtschaftsfaktor: Die Branche schafft Wohlstand

    Der geforderte Abbau von Industrie führt zu Wohlstandsverlusten. Die Chemie (ohne Pharmahersteller) bietet 354.000 gut bezahlte Arbeitsplätze und erzeugt 53 Milliarden Euro Wertschöpfung, weiß VCI-Chefvolkswirt Meincke. „Rechnet man die indirekte Wertschöpfung bei Zulieferern und außerdem die durch die Kaufkraft der Beschäftigten hinzu, steht die Branche für riesige 100 Milliarden Euro Wertschöpfung.“ Dem Staat beschert das rund 25 Milliarden Euro an Steuern und Sozialabgaben. „Vor allem aber bringen die Chemieunternehmen Top-Produkte für die Erfolge unserer Industrie auf dem Weltmarkt.“

    Wie Chemieprodukte unseren Alltag prägen

    In Raffinerien und Großanlagen werden Grundstoffe für die vielen Chemieprodukte erzeugt. Wo und wie diese Chemieprodukte unser Leben erleichtern, lesen Sie hier:

    • Lebensmittelverpackungen: Flaschen und Einwegpackungen fertigt man aus den Kunststoffen Polyethylen und PET. Auch der Verbundkarton enthält Kunststoff.
    • Textilien: Kunstfasern finden oft in Sport- und Outdoor-Kleidung Verwendung. Sie lassen Schweiß nach außen gut durch, sind robust, schützen vor Wind und Wetter.
    • Autoreifen: Für Pneus wird auch synthetischer Kautschuk eingesetzt: 1 Million Tonnen produziert die Chemie im Jahr. Wichtig ist er dito für Dichtungen an Fenstern und Türen.
    • Dünger und Pestizide: 1,8 Millionen Tonnen Ammoniak für Dünger wurden 2022 erzeugt – wegen des teuren Erdgases ein Viertel weniger als zuvor. Auch für Pflanzenschutz sorgt die Chemie.
    • Lacke und Farben: Sie machen Fassaden, Wände, Autos und Zeitungen bunt. Produktionsmenge: 2,1 Millionen Tonnen Anstrichstoffe im Jahr, 340.000 Tonnen Druckfarben.
    • Kosmetik: 4,4 Millionen Liter Duftstoffe und Duftwässer hat die Branche 2022 hergestellt und 510.000 Tonnen Seifen. Zudem Haarwaschmittel, Zahnpasten sowie Sonnenschutz.
    • Schaumstoffe: Matratzen, Autositze oder Schwämme enthalten Schaumstoffe. Material ist oft der Kunststoff Polyurethan (980.000 Tonnen Jahresproduktion).
    • Wasch- und Reinigungsmittel: 350.000 Tonnen Vollwaschmittel produziert die Chemie pro Jahr sowie 220.000 Tonnen Feinwasch- und Geschirrspülmittel.
    • Baustoffe: Styropor sorgt für gute Dämmung. Aus dem Kunststoff PVC fertigt man Fensterrahmen oder Abwasserrohre. Jahresproduktion: rund 1,3 Millionen Tonnen PVC.
    • Elektrogeräte und Elektronik: In ihnen stecken Kunststoffe und Klebstoffe, Kautschuk und Dichtungen, Lacke und Farben, Silikone oder Flammschutzmittel.

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    Hans Joachim Wolter
    aktiv-Redakteur

    Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

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