Die Sonne steht noch nicht lange am Himmel, als Knud Knudsen barfuß und mit blankem Oberkörper den saftig grünen Deich hochstürmt und den Blick übers Wattenmeer schweifen lässt. „Ostwind heute, das is’ gut. Wenig Wasser“, murmelt er zufrieden. Schichtbeginn für den einzigen Wattpostboten Deutschlands.

Knudsens Job: die Post zu Fuß von der nordfriesischen Insel Pellworm zur Hallig Süderoog zu bringen. Sechseinhalb Kilometer durch den Schlick, eine Stunde Pause auf dem winzigen Eiland, sechseinhalb Kilometer zurück, immer mit Blick auf die Uhr, die Flut wartet nicht.

Seit 20 Jahren macht Knudsen das. Gut 20.000 Kilometer ist er zwischen Insel und Hallig seither durchs Watt gewatet, schätzt er. Bei Sturm und Sonne, Wind und Winter. „Ich freu mich auf jede einzelne Tour“, versichert er, während er durch den ersten Priel watet, bis zu den Knien reicht ihm das kalte Nordseewasser an diesem Morgen.

Wie lange will er das noch machen? Knudsen, 69 Jahre alt, bleibt kurz stehen. „Ich hab einen unbefristeten Transportvertrag mit der Post. Ich will diese Arbeit machen, solange ich kann!“ Dann geht’s weiter durchs Watt, Kurs Süderoog.

Selbst Lotto-Millionäre wollen nicht auf Arbeit verzichten

Wir halten mal fest: Knud Knudsen liebt seinen Job. Und wir anderen? In unseren Büros, in den Werkhallen, an Produktionslinien, Maschinen, PC-Tastaturen? Welches Verhältnis haben wir zu unserer Arbeit? Ist sie nur etwas, das man einfach erträgt, um am Ende des Monats die Miete zahlen zu können? Beginnt Freiheit erst mit Freizeit? Oder ist Arbeit doch mehr? Und wenn ja – was eigentlich?

Den allergrößten Bock auf den Job scheinen viele tatsächlich nicht zu haben. Durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit? Sinkt seit Jahren. Wunschpensum pro Woche? Laut Sozio-oekonomischem Panel so niedrig wie nie zuvor. Bedenklich dabei: Vor allem Vollzeitbeschäftigte geben an, ihre Arbeitszeit am liebsten reduzieren zu wollen. Die laufende Debatte über eine Viertagewoche passt da ja ganz gut ins Bild. Was Christoph Schröder, Arbeitsmarktexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, mit Sorge betrachtet: „Sollte das Arbeitszeitvolumen hierzulande weiter sinken, hätte das dramatische Folgen – nicht nur für die Sozialsysteme, sondern auch für den Wirtschaftsstandort.“

Spricht man über Arbeit, ist das die eine Seite der Medaille.

„Ich freue mich auf jede einzelne Tour. Ich will das machen, solange ich kann.“

Wattpostbote Knud Knudsen

Aber es gibt auch eine andere. Als die Bertelsmann-Stiftung vor einiger Zeit Arbeitnehmer fragte, ob sie bei einem hohen Lottogewinn ihren Job kündigen würden, antwortete nur jeder fünfte mit „Ja“. Die große Mehrheit würde trotz Millionen auf dem Konto also weiter zur Arbeit gehen. Warum ist das so? Was treibt offensichtlich selbst diejenigen an die Arbeit, die eigentlich sieben Tage die Woche ihre Freizeit genießen könnten? Arbeit – ist da eben doch mehr?

Funktionen der Arbeit: Selbstverwirklichung, Motivation und Produzentenstolz

Anruf bei Werner Eichhorst, Arbeitsforscher im Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Für ihn ist klar, dass Arbeit gleich mehrere Funktionen für uns übernimmt. Zu den „harten“ Faktoren zählt natürlich der Gelderwerb: Erst der Vertrag „Zeit gegen Geld“ macht aus einem Job eine Sache mit Rechten und Pflichten. Doch beim Geld hört der Wert der Arbeit für Eichhorst noch lange nicht auf. „Menschen sind keine Maschinen. Sie bringen ihre ganze Persönlichkeit mit“, sagt Eichhorst. Für Maschinen reicht es, wenn sie genug Strom haben und hin und wieder gewartet werden. Menschen ziehen aus ihrem Job deutlich mehr.

Besuch in der Produktion von Purem Eberspächer in Neunkirchen Wellesweiler. Tobias Grün ist Produktionsleiter.

Die Forschung kennt einige dieser „weichen“ Funktionen der Arbeit. Zum Beispiel biete Arbeit die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, sagt Eichhorst: die Motivation, etwas gut zu machen, und den Produzentenstolz, wenn uns etwas gelungen ist.

Dazu passt: Studien zufolge sind Menschen am glücklichsten, wenn sie das Gefühl haben, etwas zu schaffen und Teil von etwas Bedeutendem zu sein. „Arbeit bringt Anerkennung“, sagt Eichhorst, „sie zeigt uns, wozu wir fähig sind.“

Und es kommt ja noch was hinzu: Ein geregelter Job strukturiert den Tag. Draußen im Watt kann Postbote Knud Knudsen davon ein Liedchen singen. Kühl ist es geworden, die Sonne ist mittlerweile hinter Wolken verschwunden, Knudsen stapft seit einer guten Stunde gen Süderoog. Viel Post hat er heute nicht dabei, kein Wunder, nur ein Ehepaar samt zwei kleinen Töchtern lebt auf der Hallig. Wann der Zusteller losstiefelt, entscheidet dabei nicht er, sondern allein der ewige Wechsel von Ebbe und Flut: „Die Gezeiten geben mir die Arbeitszeit vor.“ Was auch bedeutet, dass er im Winter oft im Dunklen durchs Watt läuft, mit Kompass in der Hand.

Und da wäre ja noch das Wetter. Wie oft er von Gewittern überrascht worden ist, weiß Knudsen schon gar nicht mehr. Kürzlich blieb die Post im Sack und Knudsen auf Pellworm, zu heftig waren die Stürme. „Manchmal ist der Weg eine Herausforderung, wenn das Wasser höher ist als erwartet oder plötzlich Seenebel aufkommt.“ Auch nach zwei Jahrzehnten im Watt freut sich Knudsen jedes Mal, wenn er wieder den Deich von Pellworm erreicht hat. „Es ist ein gutes Gefühl, meine Leistung erbracht zu haben“, sagt er.

Noch im Ruhestand definiert die Arbeit unser Selbstbild

Und wenn das mal nicht mehr geht? Eine Weile geht Knudsen schweigend, dann streicht er sich durch die wilde graue Mähne. „Mir würde viel fehlen. Der Job ist ein großer Teil von mir, das Watt, das Meer, das hat mich doch alles geprägt über die Jahre. Und ich wollte das nie anders.“

Den Wattpostboten vom Menschen Knud Knudsen zu trennen – das scheint also kaum möglich. Aber hat der Mann nicht auch leicht reden? Barfuß im Watt, die Haut gegerbt von der Sonne, fällt es da nicht leicht, über derzeit so viel diskutierte Begrifflichkeiten wie Work-Life-Balance altersmilde zu lächeln?

Vielleicht. Aber auch für den Philosophen Thomas Vašek führt die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre. „Dahinter steckt die konfuse Vorstellung, dass ‚Arbeit‘ und ‚Leben‘ verschiedene Dinge wären“, sagt der Autor des Bestsellers „Work-Life-Bullshit“. Das sei aber schon begrifflich Unsinn: „Arbeit gehört zum Leben. Ohne zu leben, könnten wir gar nicht arbeiten.“ Also könne es auch keinen Ausgleich geben zwischen Leben und Arbeit. Im Gegenteil. Oft nämlich ist ja eben die Arbeit für unser Selbstbild besonders wichtig. „Noch im Ruhestand definieren wir uns über den Beruf“, sagt Arbeitsmarktforscher Eichhorst. „Und gerade in westlichen Ländern ist die Arbeit oft ein prägender Teil der Biografie.“

„Work“ und „Life“ haben also mehr miteinander gemein, als es die Rede von der „Balance“ erkennen lässt. Da einen guten Ausgleich für alle zu finden, ist nur schwer möglich. Fällt doch allein die Definition von „Balance“ für jeden etwas anders aus. So braucht die junge Mutter vielleicht mehr arbeitsfreie Zeit als die Ingenieurin, die gerade mit Leidenschaft in einem Projekt aufgeht. „Statt einer starren Work-Life-Balance wäre vielleicht eine Work-Life-Flexibilität sinnvoller“, sagt Eichhorst.

Arbeit und Freizeit sollten nicht ineinander verschwimmen, findet der Experte: „Ruhephasen sind wichtig für die Gesundheit und letztlich auch für die Produktivität.“ Trotzdem sei die Arbeit nicht das Böse und die Freizeit das Gute. „Beide haben unterschiedliche Funktionen – aber es braucht eben beide.“

Besuch in der Produktion von Purem Eberspächer in Neunkirchen Wellesweiler. Tobias Grün ist Produktionsleiter.

Bock auf Arbeit: Noch zehn Jahre will Knud Knudsen den Postsack schultern

Das sieht auch Wattpostbote Knudsen so. Viereinhalb Stunden liegen hinter ihm, die Post ist ausgeliefert, Pellworm hat ihn wieder. Am nächsten Tag hat er mal frei, ein Ausflug zum Festland steht an, er freue sich darauf, sagt er. Aber eben auch auf die nächste Arbeitstour zur Hallig. „Zehn Jahre will ich das noch machen, dann müssen wir mal sehen“, sagt er.

Hat er mal darüber nachgedacht, dass er ja auch einfach so in sein geliebtes Wattenmeer gehen könnte? Ohne Postsack, ohne echte Verpflichtungen, einfach so, wann er Lust hat? Knudsen spült den Schlick von seinen Füßen. Ja, das könnte er tun, sagt er dann. Aber da gäbe es eben doch einen Unterschied. „Wo wäre denn da der Sinn?“

Nachgefragt: Was macht Ihre Arbeit so wertvoll?

Zu sagen, dass man richtig Bock auf Arbeit hat, ist im Alltag nicht unbedingt üblich. Trotzdem haben wir Beschäftigte gefragt, was sie in ihrem Job antreibt.

„Ich habe zu vielen Menschen einen persönlichen Draht“

Lorenz Witte (22), Vertriebsmitarbeiter beim Verpackungshersteller Heyne & Penke im niedersächsischen Dassel: „Meine Arbeit tut mir gut, weil ich mit meinen Aufgaben Verantwortung übernehme – und zu vielen Menschen einen persönlichen Draht aufgebaut habe. Es ist für mich wichtig, viele Kontakte zu pflegen, sei es intern oder extern, um für eine gute Kommunikation zu sorgen: So kann man mögliche Probleme schnell aus dem Weg schaffen. Und es macht mich schon etwas stolz, dass ich mit meiner Arbeit einen Teil dazu beitrage, unser Unternehmen, das mir am Herzen liegt, nach vorne zu bringen.“

„Unsere Arbeit steckt in den schönsten Autos“

Tobias Grün (42), Produktionsleiter beim Abgastechnologie-Spezialisten Purem by Eberspächer in Neunkirchen/Saarland: „Als sich ein Bekannter kürzlich einen Sportwagen gekauft hat, habe ich mich unter das Fahrzeug gelegt und gesehen: Die Abgasanlage ist von uns, daran habe ich mitgearbeitet! Unsere Arbeit steckt in den schönsten Autos – der Stolz darauf ist eine Sache, die meine Arbeit wertvoll macht. Das andere ist die Verantwortung: Wir produzieren hier Serien mit bis zu 400.000 Teilen im Jahr, die passgenau fertig werden müssen. Es kommt auch auf mein Team und mich an, dass alles glattläuft.“

„Mich motiviert die Wertschätzung unserer Kunden“

Josephina Hendriks (62), IT-Spezialistin und Kundenberaterin bei Fujitsu in Frankfurt: „Meine Arbeit in der IT-Branche macht mich stolz. Es geht darum, IT-Lösungen für unsere Kunden zu entwickeln, oft über alle Geschäftsprozesse eines Unternehmens hinweg. Deshalb muss ich sehr fokussiert und kundenorientiert arbeiten. Das mache ich mit Leidenschaft für Technik und Mensch. Mich motiviert dabei die Wertschätzung unserer Kunden sowie Anerkennung und Respekt – nicht zuletzt auch von meinen Kollegen. Wir wissen: Nur gemeinsam sind wir stark.“

„Die Arbeit mit meinen jungen Kollegen hält mich fit“

Thomas Klick (60), Servicetechniker bei Kunzlerstrom in Maintal: „Mit meiner langjährigen Erfahrung sorge ich bei Kunzlerstrom mit meiner täglichen Arbeit für die Sicherheit von Menschen, Tieren und Gütern. Seit 22 Jahren komme ich gerne zur Arbeit, weil in unserem Unternehmen kein Tag dem anderen gleicht. Jede Anlage und jeder Kunde hat unterschiedliche Ansprüche. Das macht meinen Job so spannend. Die Arbeit mit meinen jungen Kollegen hält mich außerdem fit, und ich gebe mein Wissen gerne an unsere Nachwuchsfachkräfte weiter.“

Ulrich Halasz
aktiv-Chefreporter

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher. 

Alle Beiträge des Autors
Michael Aust
aktiv-Redakteur

Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band. 

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