Berlin. Blackout. Bisher spielte der Begriff hierzulande kaum eine Rolle. Der Strom kommt aus der Steckdose. Immer, gefühlt jedenfalls. Nur knapp 13 Minuten pro Jahr mussten Verbraucher zuletzt im Durchschnitt auf die Energie für Herd und Kühlschrank, Waschmaschine und Licht, Fernseher und Rechner verzichten. Das ist international ein Spitzenwert an Versorgungssicherheit!

Den letzten größeren Stromausfall gab es bei uns im Winter 2005 im Münsterland. In diesem Winter aber könnte diese gewohnte Verlässlichkeit Risse bekommen.

Versorgungssicherheit: Einen Blackout befürchten die meisten Experten nicht

Plötzlich gibt es Angst vor einem Blackout. Städte wie Berlin, Koblenz und Duisburg oder Landkreise wie Steinfurt in NRW bereiten sich darauf vor: Kaufen Notstromaggregate, bunkern Treibstoff, aktualisieren Notfallpläne, planen Anlaufstellen für Bürger sowie warme Notunterkünfte in Turnhallen. Auch Betriebe treffen Vorkehrungen. Ihre Befürchtung: Durch den Gasmangel und die Stromknappheit in Europa könnte die Versorgung in die Knie gehen, besonders wenn der Winter sehr kalt wird.

Die gute Nachricht: Einen Blackout, also einen unkontrollierten flächendeckenden Zusammenbruch des Netzes, befürchten die meisten Experten nicht!

Fabian Huneke vom Beratungsunternehmen Energy Brainpool in Berlin sagt: „Möglich ist allenfalls ein sogenannter Brownout, bei dem Übertragungsnetzbetreiber einzelne Großverbraucher oder Regionen stundenweise vom Netz nehmen müssen.“

Die großen Netzbetreiber haben einen „Stresstest“ gemacht

Wie ernst also ist die Situation? Um das zu bewerten, haben die großen Netzbetreiber Tennet, Amprion, 50Hertz und Transnet BW in einem „Stresstest“ drei mögliche Szenarien für die Stromversorgung in diesem Winter durchgespielt. Sie nutzten dafür Wetterdaten vom sehr kalten Winter 2012. Folgende Stressfaktoren für die Versorgung bewerteten sie: Wie wirkt sich die Verfügbarkeit französischer Atomkraftwerke aus? Wie sehr könnte Niedrigwasser in den Flüssen die Rohstoffversorgung von Kohleanlagen beeinträchtigen? Was passiert, wenn zu viele Menschen gleichzeitig mit Heizlüftern ihre Wohnung wärmen?

Das Fazit: In allen drei Szenarien sei die Versorgungssituation im kommenden Winter „äußerst angespannt“, schreiben die Netzbetreiber. Sämtliche Reserven bei Kraftwerken müssten nun „nutzbar gemacht werden“. Das fordert auch der Industriedachverband BDI in Berlin. Jetzt seien „der schnelle Hochlauf von Stein- und Braunkohlekraftwerken und die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke“ erforderlich. Der BDI hat dabei auch die hohen Strompreise für die Unternehmen im Blick.

Nach langem Hin und Her bleiben die Atomkraftwerke bis April 2023 in Betrieb

Aber bei der Kernkraft kochen die Emotionen hoch. Umweltschützer engagierten sich dafür, die letzten drei verbliebenen AKWs wie geplant Ende des Jahres 2022 abzuschalten. Andere Politiker wollten zwei Blöcke kurze Zeit weiterlaufen lassen, manche alle Kraftwerke bis 2024. Dann sprach der Bundeskanzler ein Machtwort: Die Kernkraftwerke Emsland in Niedersachsen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg bleiben bis Mitte April 2023 am Netz. Das soll Stromengpässe in Süddeutschland vermeiden helfen.

Allerdings: Mit den vorhandenen alten Brennstäben bringen die Atomblöcke im kurzzeitigen Streckbetrieb bis zum Frühjahr 2023 nur 90 bis 70 Prozent ihrer vollen Leistung. So kalkulieren die Netzbetreiber in ihrem Stresstest.

Bei den Kohlekraftwerken wiederum sollen 13 stillgelegte Blöcke wieder hochfahren, so die Netzbetreiber. Ende September war das bei zwei Steinkohleanlagen der Fall, vier weitere könnten ab November wieder loslegen. Zwei Braunkohleanlagen hat der Energiekonzern Leag wieder in Betrieb genommen, drei Blöcke will RWE im Oktober hochfahren. Jedes zusätzliche Kraftwerk ist nicht nur für die Versorgungssicherheit gut, sondern würde auch den Strompreis spürbar senken. Das ergab jetzt eine Studie der Uni Erlangen unter Federführung der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm.

Frankreich fällt als Stromlieferant derzeit aus

Warum ist die Situation derzeit so angespannt? Weil in ganz Europa die Versorgung mit Strom denkbar knapp ist. In Frankreich waren Ende September 27 der 56 Atommeiler wegen Wartungen und Reparaturen nicht am Netz. Wegen der prekären Situation dort hat Deutschland in den ersten acht Monaten dieses Jahres im Saldo schon mehr Strom nach Frankreich geliefert als zuletzt im ganzen Jahr. Zudem heizen viele Franzosen mit Strom, der Energiebedarf ist also im Winter besonders hoch. Die Schweiz kämpft ebenfalls mit Stromknappheit, weil die Pegel der Stauseen im Dürre-Sommer gesunken sind. Polen kann auch nicht mit Strom-Exporten aushelfen, da es dort offenbar an Steinkohle mangelt.

Zudem könnte das Niedrigwasser in Rhein und Neckar zurückkehren und die Kohleversorgung der Kraftwerke in Süddeutschland einschränken. Und dann sind da noch die vielen Heizlüfter …

Wird es eng, versuchen Spezialisten noch Reserven in Europa zu mobilisieren

Kommen viele dieser Faktoren zusammen, könnte es eng werden, besonders bei einem sehr kalten Winter. Aber was bedeutet das dann?

Laut den Stresstest-Ergebnissen kann es zu sogenannten „Lastunterdeckungen“ kommen. Heißt: Es gibt nicht genug Strom für alle! Käme es zu einer Situation wie im Extremszenario der Untersuchung, würden wenige Stunden sogar erhebliche Mengen Strom fehlen. In so einem Fall versuchen die Spezialisten in den Schaltzentralen des Stromnetzes zunächst, noch Reserven in Europa zu mobilisieren, erklärt Amprion in seinem Netzjournal. Oder sie nehmen Großverbraucher wie etwa den Alu-Hersteller Trimet vom Netz.

Erst wenn das nicht greift, wird regional, zeitlich begrenzt und mit Ankündigung Betrieben und Haushalten der Strom abgeschaltet. Solche „Brownouts“ sind anderswo in Europa nicht selten. Die Energieversorger und Netzbetreiber werden aber alles tun, damit so ein Ernstfall bei uns gar nicht erst eintritt.

Wartung einer Hochspannungsleitung: Die Gaskrise bedroht auch die Versorgungssicherheit beim Strom. Deshalb gehen abgeschaltete Kohlekraftwerke wieder ans Netz und die Atommeiler laufen weiter.

Wie klassische Kraftwerke und Erneuerbare den Strom erzeugen

  • Erneuerbare Energien liefern in diesem Jahr bisher insgesamt die Hälfte des deutschen Stroms. Aber das wechselt mit den Tageszeiten und dem Wetter, wie unsere Grafik zeigt. In der zweiten Oktoberwoche etwa kamen manchmal bis zu zwei Drittel des Stroms aus den erneuerbaren Energien, vor allem um die Mittagszeit (das zeigen die gelben Spitzen).
  • In manchen Stunden jedoch, besonders nachts, erzeugten Gas-, Kohle-, Öl- und Atomkraftwerke 70 bis 80 Prozent der elektrischen Energie. Konventionelle Kraftwerke sind also für eine sichere Stromversorgung nach wie vor unerlässlich. Derzeit aber ist Gas knapp und teuer. Deshalb gehen abgeschaltete Kohleblöcke wieder in Betrieb und die Atomkraftwerke laufen weiter, damit es einen zusätzlichen Puffer gibt.
  • Wenn der Stromverbrauch (die rote Linie) höher war als die gesamte Stromerzeugung, hat Deutschland Strom importiert, war er niedriger, wurde Strom exportiert.
Hans Joachim Wolter
aktiv-Redakteur

Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

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