Werdohl. Mit der Produktion von sechs Jahren eine Bahnstrecke rund um die Welt bestücken – das würden die rund 275 Mitarbeitenden bei Vossloh in Werdohl locker schaffen. Sechs Jahre? Hört sich erst einmal wenig spektakulär an. Aber: Vossloh ist ein Anbieter für Schienenbefestigungssysteme und produziert unter anderem die Spannklemmen, mit denen die Schienen auf den Schwellen befestigt werden. 6.600 Stück werden für einen Kilometer Gleis gebraucht; in einer Schicht schaffen die Werdohler etwa 20.000. Mit der jährlichen Produktionskapazität von 50 Millionen Befestigungselementen kann man 7.500 Kilometer Gleis bestücken – in knapp sechs Jahren wären die 40.075 Kilometer rund um die Erdkugel geschafft.

Ein solches Projekt gehört in die Abteilung Fantasy, ganz anders als die Vision, deren Umsetzung man am Stammsitz des 1883 gegründeten Unternehmens besichtigen kann. Mit der „Fabrik der Zukunft“ wurde die Produktionskapazität um zehn Millionen Spannklemmen erhöht. Die, so Vossloh, weltweit modernste Produktion dieser Art läuft.

Vossloh hat viele Technologien selbst entwickelt

Auf knapp 8.000 Quadratmetern sind fünf vorher über das Gelände verteilte Fabrikbereiche unter einem Dach konzentriert. Am Eingang lagern die Coils, bereit zum Beizen - „ausgerollt“ rund 20.000 Kilometer im Jahr. Der vorbehandelte Draht wird in die Biegelinie gehoben – der letzte Schritt, an dem noch ein Mitarbeiter Hand anlegt. Den Rest übernehmen Roboter und Transportbänder. Die passend geschnittenen Stäbe werden in einem mehrstufigen Prozess gebogen. Der Roboter legt die Klemmen auf ein Transportband. Sie werden gewaschen und im Bandofen erhitzt, abgekühlt, gewaschen, erhitzt. Am Ende übernimmt ein Roboter die Klemmen, scannt und verpackt sie in eine Transportkiste oder schickt sie einzeln aufgehängt zur Lackieranlage. Dort sprühen vier Roboter die hauchdünnen Beschichtungen auf, mit denen die Klemmen für extreme Bedingungen fit gemacht werden.

50.000.000 Spannklemmen im Jahr sind möglich.

„Wir haben den Herstellungsprozess komplett neu gedacht. Die eingesetzte Technologie ist intern mit Vossloh-Wissen entwickelt worden. Das sind alles Prototypen“, sagt Christoph Sawert, Leiter Industrial Engineering, „das gab es alles vorher nicht.“ Effizienter und kostengünstiger sollte die Produktion werden, dazu wollte man mehr Teile selbst produzieren – mit diesem Ziel beschloss der Vorstand 2016 den Bau der neuen Fabrik am traditionsreichen Standort, nah am Know-how der Mitarbeiter.

Auf das setzte das Unternehmen auch bei der Planung. Ein 25-köpfiges Projektmanagementteam nahm sich insgesamt neun Teilprojekte vor, präsentierte im November 2016 die Pläne mit einem Investitionsvolumen von 40 Millionen Euro. Dreieinhalb Jahre später wurde die erste Spannklemme in der neuen Halle produziert. „Rund 60.000 Stunden stecken darin“, bilanziert Sawert, „446 Bestellungen, 1.766 Rechnungen, circa 400 externe Mitarbeiter, keine Förderung, keine Unfälle, keine Budgetüberschreitung.“ Und das trotz Corona, Materialproblemen und Hochwasser eine Woche nach der ersten vollverketteten Produktion.

„Fabrik der Zukunft“: Schneller liefern, schlanker produzieren

Der Schreckmoment einer drohenden Überflutung ist vergessen, mittlerweile ist die hochmoderne Produktion um eine vierte Biegelinie erweitert worden. An den vollautomatisierten Fertigungsstraßen sind weniger Mitarbeiter als früher im Einsatz. Überflüssig geworden sind die Kollegen aber nicht. „Sie haben die Chance genutzt, sich anzupassen. Trotz Corona haben wir viele umgeschult“, erklärt der technische Geschäftsführer Andree Czipura. Mit ihnen konnte so die Kunststofffertigung aufgebaut werden, ein komplett neues Feld im Werdohler Werk, in das sich vom Maschinenführer bis zum Projektleiter alle einarbeiten mussten.

Die Spritzgießmaschinen produzieren Dübel und Winkelführungsplatten am laufenden Band. Erst sie machen das Schienenbefestigungssystem komplett. „36.000 Dübel fertigen wir am Tag“, erklärt Patrick Schneider, Leiter Fertigungsbereiche: „Dadurch, dass wir sie jetzt selbst produzieren, haben wir eine Lieferzeitverkürzung um mehrere Werktage erreicht.“

Schneller liefern, schlanker produzieren – der Grundsatz zieht sich durch die ganze „Fabrik der Zukunft“. Oft sind es „Kleinigkeiten“, die sich auszahlen. So wie die neuen faltbaren Versandkisten aus Kunststoff, in denen die Spannklemmen ordentlich gestapelt statt wie bisher in Stahlbehälter geschüttet werden. Die Teile lassen sich so in der Verarbeitung beim Kunden einfacher entnehmen. Geringeres Gewicht und Volumen machen sich bei Vossloh bemerkbar. „Wir sparen die Hälfte an Transportkosten“, sagt Schneider.

Boomende Bahnbranche: Millionenaufträge aus China und Ägypten

Die Investition in Werdohl ist zum passenden Zeitpunkt gekommen. Die Bahnbranche boomt, auch wenn der Zugreisende in Deutschland noch eher mit den Folgen des zurückhaltenden Bahnnetz-Ausbaus zu kämpfen hat. In den vergangenen Monaten hat Vossloh, weltweit an mehr als 35 Produktionsstandorten aktiv, mehrere Millionenaufträge unter anderem aus Ägypten und China unterzeichnet. Strecken mit Zug-Geschwindigkeiten von 340 Stundenkilometern und mehr, aber auch Schwerlastverkehr, geräuscharme Metros oder besondere Untergründe und Klimabedingungen erfordern spezielle Lösungen für die Schienenbefestigungen. 54 Grundtypen gibt es, die im Werdohler Forschungs- und Entwicklungslabor ständig weiterentwickelt werden. Die angestrebte CO2-Neutralität kommt zusätzlich ins Spiel. In der „Fabrik der Zukunft“ ist man auch da für kommende Aufgaben gerüstet.

Leiter der Kunstofffertigung: Eine Begegnung mit Jonas Lopatenko

Taktgefühl und gute Nerven hat Jonas Lopatenko. Das hat er privat schon oft als Turniertänzer und - mit 16  Jahren - als Trainer einer Mädelstanztruppe bewiesen. Analytisch und vorausschauend denken, sich immer wieder in neue Themen einarbeiten und Produktionsprozesse planen kann er aber auch. Alles zusammen hat ihn mit 29 Jahren weit gebracht. Seit zwei Jahren ist er für die Kunststofffertigung verantwortlich, deren Aufbau und Planung er von Anfang an in verschiedenen Positionen begleitet hat. „Ich konnte immer wieder Verantwortung übernehmen“, sagt Lopatenko, „ich durfte mit der Fabrik wachsen.“

Eigentlich wollte der Werdohler Schreiner werden, startete mit 16 Jahren dann aber doch als Werkzeugmechaniker-Azubi bei Vossloh. Im Praktikum hatte er hier ein Mühlespiel gebaut, das hat ihn begeistert. Und: „Mein Opa hat hier 37 Jahre gearbeitet“, erzählt er. Papa und Tante waren auch da – Vossloh ist in vielen Familien verankert.

Den Realschüler packte hier der Ehrgeiz. Er machte das Fachabi, studierte Maschinenbau, machte seinen Master als Wirtschaftsingenieur – alles nebenher und parallel zum beruflichen Aufstieg. Das Unternehmen hat ihn unterstützt, beweisen musste er sich selbst. „Es war eine sportliche Zeit“, blickt er zurück, „aber es hat sich alles ausgezahlt.“

Persönlich

Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?

Durchs Heimwerken habe ich mich fürs Basteln und Technik begeistert. Es macht einfach Spaß zu sehen, wenn sich was dreht.

Was reizt Sie am meisten?

Die Kombi Mensch-Maschine-Material-Umwelt passend machen. Es gibt selten einen Tag, an dem alles auf einem Niveau läuft.

Worauf kommt es an?

Die Chemie im Team muss stimmen, alle müssen sich gut verstehen. Wenn das passt, ist jede Herausforderung lösbar.

Hildegard Goor-Schotten
Autorin

Die studierte Politikwissenschaftlerin und Journalistin ist für aktiv vor allem im Märkischen Kreis, Hagen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis unterwegs und berichtet von da aus den Betrieben und über deren Mitarbeiter. Nach Studium und Volontariat hat sie außerdem bei verschiedenen Tageszeitungen gearbeitet und ist seit vielen Jahren als freie Journalistin in der Region bestens vernetzt. Privat ackert und entspannt sie am liebsten in ihrem großen Garten

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