Es hat Momente gegeben, da lag Erika Schleicher abends im Bett und dachte: Das war’s jetzt, Schluss, es geht nicht mehr. Mit Volkmar, ihrem demenzkranken Mann. Dunkle, traurige Momente des Zweifels waren das. Wenn sie sich den Tag über abgemüht hatte, ihn nur aus dem Sessel zu hieven, später sicher ins Bett zu geleiten. „Ich hatte damals wirklich Angst, das nicht mehr zu schaffen. Ich bin doch auch über 80!“

Gut zwei Jahre ist das jetzt her. Heute, an einem grauen Wintertag, sitzen Erika und Volkmar Schleicher Hand in Hand nebeneinander am hölzernen Esstisch im Pflege-Übungszentrum (PÜZ) im bayerischen Mellrichstadt. Hier können pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen eine Zeit lang einziehen, um gemeinsam zu üben, wie Pflege zu Hause funktionieren kann. Auch die Schleichers haben das gemacht – eben vor zwei Jahren. Mit Erfolg. Heute sind sie nur zu Besuch, sie wollen erzählen. „Wenn es das PÜZ nicht gegeben hätte, hätten wir das alles nicht geschafft“, sagt Erika. Sie lächelt. Und weint – vor Freude.

Der größte Pflegedienst Deutschlands – das sind die Angehörigen

Pflege in Deutschland – wenn es um dieses Thema geht, klingt es meist wenig nach Freude. Und viel nach Weltuntergang. Man denkt an mangelnde Qualität in der Pflege, an hilflose Alte, die einsam dem Tod im Heim entgegendämmern. An den Fachkräftemangel, an frustriertes, nicht selten ausgebranntes Personal in den Altenheimen, verzweifelte Angehörige auf der Suche nach einem guten und bezahlbaren Betreuungsplatz. Und es geht, natürlich, immer auch ums fehlende Geld. Kurz: ums kränkelnde System Pflege.

Und es stimmt ja auch: Deutschland befindet sich tatsächlich inmitten einer großen Pflegekrise. Über fünf Millionen Menschen hierzulande sind aktuell auf Pflege angewiesen. Das schätzt das Statistische Bundesamt. Mehr als doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren. Und alle Experten sind sich einig: Wegen des demografischen Wandels wird die Zahl der zu Pflegenden in den nächsten Jahren deutlich steigen.

Überraschend dabei: Vollstationär in Pflegeheimen werden in Deutschland derzeit „nur“ 800.000 Menschen versorgt. Die weit größere Mehrheit, nämlich etwa 80 Prozent der zumeist älteren Menschen, wird zu Hause betreut. Und rund 2,6 Millionen Betroffene beziehen zwar Pflegegeld, werden aber vorwiegend durch Angehörige, Nachbarn oder Freunde gepflegt. Ohne Unterstützung durch mobile Pflegedienste oder Sozialstationen also.

Pflegeversicherung stellt stark auf familiäre Pflege ab

Das bestätigt auch Johannes Geyer, stellvertretender Leiter der Abteilung Staat beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. „Die Pflegeversicherung stellt in Deutschland nach wie vor sehr stark auf die familiäre Pflege ab.“ Problem dabei: „Viele Pflegeleistende überfordert das, sie müssen viel Zeit und Kraft aufbringen und können entweder nicht erwerbstätig sein oder leiden unter der Doppelbelastung.“

Überforderung – genau an diesem Punkt setzen sie an im Pflege-Übungszentrum PÜZ in Mellrichstadt, Unterfranken. „Unser Ziel hier ist es, Ängste und Unsicherheiten zu nehmen“, sagt Ulli Feder. Die PÜZ-Leiterin und Initiatorin sitzt in ihrem Büro und erzählt, wie das so ist, wenn plötzlich ein Familienmitglied pflegebedürftig wird. „Für viele Betroffene bricht dann die Welt zusammen, die emotionale Belastung ist oft enorm hoch. Im PÜZ wollen wir dann zeigen, das vieles machbar ist.“

Im Zentrum selbst, einem Flachbau auf dem Gelände des Trägers Caritas, stehen dafür zwei komplett ausgestattete Apartments zur Verfügung. Um dort den Alltag in den eigenen vier Wänden möglichst realistisch zu trainieren, können im PÜZ beispielsweise Türrahmen verkleinert, Hindernisse wie Steigungen oder kleine Stolperfallen simuliert werden. „Im Krankenhaus kommt man auf den breiten Gängen überall durch, aber daheim kommt manchmal das böse Erwachen“, sagt Leiterin Feder. Wie man damit umgeht, das lernt man hier. Viel Technik ist auch verbaut: Das Licht schaltet man ebenso per Sprachsteuerung ein wie den Flachbild-Fernseher, Herd und Kühlschrank sind von Sensoren überwacht.

Nach dem Aufenthalt entscheidet sich die Mehrheit fürs Zuhause

Auch Erika und Volkmar Schleicher probten hier seinerzeit ihren neuen Pflege-Alltag. Als Volkmars Erkrankung ihn vor zwei Jahren immer mehr einzuschränken begann, schienen die gemeinsamen Tage im alten Zuhause gezählt. „Er hatte Schwierigkeiten, vom Stuhl aufzustehen, brauchte in immer mehr Dingen eine helfende Hand“, erinnert sich Erika. Die guten alten Tage, die vielen Urlaube am brandenburgischen Helenesee, die fröhlichen Feiern, das Sitzen im heimischen Garten – war das nun alles vorbei? „Das wollten wir einfach nicht“, sagt Erika Schleicher und greift am Esstisch im PÜZ nach Volkmars Hand. Also gingen sie ins PÜZ, für drei Wochen.

Erika Schleicher lernte die nötigen Handgriffe, um ihren Mann weiter versorgen zu können. In vielen Beratungen und Schulungen erfuhr sie, welche Leistungen dem Ehepaar zustehen, an wen man sich wenden kann, wo man ein Pflegebett für daheim herbekommt. Am Ende stand die Entscheidung fest. „Wir versuchen es zu Hause. Wir trennen uns nicht.“ Bis heute funktioniert das für die Schleichers gut: „Letztes Jahr haben wir zu Hause goldene Hochzeit gefeiert.“

„Wer im PÜZ gewohnt hat, kann am Ende des Aufenthalts bewusst die Entscheidung für eine Pflege im gewohnten häuslichen Umfeld treffen – oder auch dagegen“, so Ulli Feder. Fast 85 Prozent der Bewohner entscheiden sich für die eigenen vier Wände. Feder: „Die Angehörigen sind der größte Pflegedienst Deutschlands. Und hier qualifizieren wir ihn.“ Seit seiner Eröffnung im Jahr 2019 hat das PÜZ so manche Lobeshymne gehört. Minister schritten andächtig durch die Räume, Pflegeexperten äußerten sich begeistert. Allerdings: Noch immer ist die Einrichtung bundesweit einmalig. „Dabei bräuchten wir ein dichtes Netz solcher Zentren“, so Leiterin Feder.

Viele Pflegebedürftige konnten das Heim wieder verlassen

Dass das System Pflege in Deutschland ein Problem hat, bestreitet auch Feder nicht. „Aber wir sind auch nicht am Boden. Wir haben doch durchaus die Chance, etwas zu verändern!“

Und tatsächlich scheint mancherorts ein Paradigmenwechsel eingesetzt zu haben – weg von der reinen Pflege und hin zur Rehabilitation älterer Menschen. Zwar steht der Grundsatz „Reha vor Pflege“ sogar im Sozialgesetzbuch. Umgesetzt wurde er bislang aber kaum.

Doch es gibt Einrichtungen, die das gerade ändern. In Baden-Württemberg etwa fördert ein Betreiber von Hausgemeinschaften die Einbindung der Senioren beim Kochen, beim Gärtnern oder Bügeln. Pflegebedürftige sollen so ein Stück Würde zurückerlangen – und wieder selbstständiger werden. Das Konzept funktioniert, oftmals kann sogar der Pflegegrad anschließend heruntergestuft werden.

Weiteres Beispiel: In einem Pflegeheim in NRW konnten dank der Unterstützung von Neurologen sowie Bewegungs- und Musiktherapeuten Dutzende Bewohner das Heim sogar wieder verlassen. Nicht mit den Füßen voran, sondern nach Hause, wohlgemerkt! Noch sind das singuläre Projekte. Aber sie machen Hoffnung.

Dennoch: „Ohne die Stärkung der häuslichen Pflege bekommt das System nicht die Kurve“, sagt die Pflegewissenschaftlerin Professorin Angelika Zegelin im Gespräch mit aktiv. „Um Heime zu entlasten, müssen die Familien befähigt werden, ihre Angehörigen selbst zu versorgen.“ Ambulante Pflegedienste reichten an dieser Stelle nicht aus. „Die kommen zweimal am Tag für acht Minuten.“ Familien bräuchten zudem „Ansprechpartner, die sie bei der Pflege unterstützen!“

Ansprechpartner wie das PÜZ. Nach zähen ersten Jahren war das Übungszentrum seit März vergangenen Jahres erstmals ausgebucht. Leiterin Feder:„Wer hier war, nimmt in der Regel drei Dinge wieder mit nach Hause. Perspektive. Zuversicht. Und Lebensfreude!“

Ulrich Halasz
aktiv-Chefreporter

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher. 

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