„Das sind für mich jetzt nicht nur reine Kennzahlen“, sagt Megumi Shibutani. Von ihrem Bürofenster aus blickt die 30-jährige Betriebswirtin auf das Werk von Teijin Carbon Europe in Heinsberg: Hier sieht sie, wie Mitarbeitende Carbonfasern für den japanischen Faserspezialisten verarbeiten und die fertigen Gewebe und Gelege ins Lager bringen.
Shibutani arbeitet im Controlling und der Buchhaltung und berichtet die finanziellen Ergebnisse des deutschen Standorts an die Zentrale in Tokio, Japan. „Früher habe ich in der Zentrale gearbeitet und konnte mir die Produkte und die Menschen hinter den Zahlen nur schwer vorstellen. Das nun zu erleben, macht mich sehr glücklich.“
Forschung, Qualitätskontrolle und Vertrieb sind in Wuppertal
Teijin Carbon gehört zu den weltweit größten Herstellern von leichten, aber extrem festen synthetischen Fasern. Aus den Carbonfasern und Halbzeugen aus Carbonfasern konstruieren die Kunden Bauteile für Flugzeuge, Sportautos, Windkraftanlagen, Brücken, Gebäude, Sportartikel und vieles mehr.
Forschung, Entwicklung, Qualitätssicherung und der Vertrieb des Unternehmens sitzen in Wuppertal, während die Produktion, das Lager und Teile der Verwaltung in Heinsberg bei Aachen sind.
Insgesamt beschäftigt der Konzern rund 500 Personen in Deutschland. Dazu gehören aktuell fünf sogenannte Expats, die für ein bis drei Jahre aus Japan hierher entsandt werden. Ihre Aufgabe: Sie sind die Brücke zwischen den Welten.
Weil die Sprachen, die Märkte und die Arbeitsprozesse ziemlich unterschiedlich sind, ist es von Vorteil, Mitarbeitende zu haben, die beide Seiten kennen. Die Chemieingenieurin Mizuki Sasaki hält in Wuppertal die Verbindung zwischen der Produktion in Japan und der in Deutschland. Sie gibt das Feedback europäischer Kunden aus dem Luftfahrt-Segment an die japanischen Chemiker weiter. „Ich habe meinem Boss gesagt, dass ich gern die Chance hätte, außerhalb Japans zu arbeiten“, erzählt Sasaki. Auch ihre Kollegin Shibutani hat immer wieder danach gefragt.
Videos und Tipps zum besseren Einleben
Frühere Expats haben eine Checkliste und Videos für ihre Nachfolgerinnen erstellt. Mit nützlichen Tipps wie „früh an die Wohnungssuche denken“. Beide leben in Düsseldorf, wo die größte japanische Gemeinschaft in Deutschland zu Hause ist. Als alleinstehende Frauen finden sie jedoch schwer Anschluss an die Community, weil andere Expats meist mit der Familie anreisen. In Düsseldorf gibt es Supermärkte und Restaurants nach japanischem Geschmack. Inzwischen trinken die beiden Frauen aber auch gern Kaffee und essen Pasta, Pizza und Lasagne. „Ich vermisse allerdings die Geschäfte, in denen man rund um die Uhr fast alles Notwendige kaufen kann“, sagt Sasaki.
Die 33-jährige Ingenieurin kam während des zweiten Lockdowns nach Deutschland: Nur Supermärkte und Apotheken waren auf, die Kollegen sah sie lediglich in der Videokonferenz. Unter diesen Umständen einen Umzug zu organisieren, war doppelt und dreifach so schwer.
Japanische Türen schließen anders
Fast genauso wichtig: einen Stellplatz in der Großstadt zu finden. Anfangs traute sich Sasaki kaum, hier Auto zu fahren. „Aber die Bahn ist in Deutschland sehr unorganisiert“, lautet ihr diplomatisches Urteil. Deshalb fährt sie jetzt praktisch überallhin mit dem Auto. Auch Shibutani machte einschlägige Erfahrungen. Frühmorgens um 6 Uhr wollte sie im Winter mit der Bahn zur Arbeit – und wartete vergeblich und halb erfroren eineinhalb Stunden auf ihren Zug. Dieser war ausgefallen, aber die junge Frau konnte die Ansage nicht verstehen. „Danach habe ich beschlossen, in Zukunft nur noch mit dem Auto zur Arbeit zu fahren!“
Noch ein „Schlüsselerlebnis“: Sie hatte sich versehentlich ausgesperrt. „Die Türen schließen hier automatisch: Das ist in Japan nicht so.“ Shibutani stand ohne Schuhe, ohne Handy, ohne Jacke im Treppenhaus, bis der Vermieter sie rettete. Jetzt habe sie bei den Nachbarn Ersatzschlüssel für den Notfall deponiert.
Großraumbüros und weniger Freizeit
Und die Arbeitskultur? Den beiden „Mittlerinnen zwischen den Welten“ fällt sofort ein gewaltiger Unterschied ein: die Büros. Sie haben hier Einzelbüros oder sitzen höchstens zu zweit oder zu dritt zusammen. „Bei uns gibt es nur Großraumbüros: Das ist wie dieser lange Flur hier, aber ohne Wände. Auch die Labore grenzen direkt daran, und die Chefs sitzen mittendrin. Nur der CEO hat ein eigenes Zimmer, lässt aber die Tür offen.“ Laut sei es dennoch nicht: Wer telefonieren muss, spricht ganz leise.
Zudem nehmen viele Japaner nicht ihren ganzen Urlaub, während das hier ein Muss ist. „Jetzt haben wir viel mehr Freizeit“, stellen die Japanerinnen fest. Shibutani hat endlich die Gelegenheit, ins Fitnessstudio zu gehen. Sasaki nutzt die Chance, Europa kennenzulernen: Am besten haben ihr bisher Griechenland und Norwegen gefallen.
Zum Schluss verneigen sich die beiden Expats und das aktiv-Team voreinander und wünschen „einen schönen Tag“. „Das gibt es bei uns nicht“, freut sich Shibutani immer über diese Grußformel, die ihr den Tag in der Tat verschönert. „Bei uns sagt man nur: Danke, dass Sie da waren.“
Matilda Jordanova-Duda schreibt für aktiv Betriebsreportagen und Mitarbeiterporträts. Ihre Lieblingsthemen sind Innovationen und die Energiewende. Sie hat Journalismus studiert und arbeitet als freie Autorin für mehrere Print- und Online-Medien, war auch schon beim Radio. Privat findet man sie beim Lesen, Stricken oder Heilkräuter-Sammeln.
Alle Beiträge der Autorin