Sindelfingen. Wenn Rawand Baziany die Tür hinter sich schließt, umgibt ihn absolute Stille. Das Soundlabor im Sindelfinger Mercedes-Werk ist komplett schallgedämmt, nicht das kleinste Geräusch dringt von außen durch. Baziany legt Kopfhörer an und setzt sich an seinen Arbeitsplatz: die digitale Audio-Workstation. Hier und im Tonstudio – umringt von sieben Lautsprechern – hat der Sounddesigner zusammen mit vier Kollegen die Klänge für den neuen E-Mercedes EQS kreiert.
Elektro-Autos müssen für andere hörbar sein
Wieso kreiert? Warum schafft man für leise Fahrzeuge künstliche Geräusche? Bei E-Autos haben die digital erzeugten Töne mehrere Dimensionen. Zum einen müssen sie auch bei unter 20 Stundenkilometern hörbar sein, damit Fußgänger und Fahrradfahrer wissen: Da kommt ein Auto. Bei sehr langsamer Fahrt machen nämlich die ohnehin leisen Autos auch kaum Reifenrollgeräusche. „Ich persönlich bin ein Fan der Vision einer stillen Innenstadt ohne Verkehrslärm, da ich an einer lauten Straße wohne“, erzählt Baziany. „Deshalb bin ich froh, dass Mercedes hier sehr dezent vorgeht. Der EQS ist gerade so laut wie nötig, um etwa Fußgänger zu warnen – aber nicht mehr.“
Der Fahr-Sound gibt Rückmeldung über die Geschwindigkeit
Andere Geräusche haben einen praktischen Zweck für den Fahrer: Sie zeigen ihm, dass eine Funktion im Gange ist, wenn er sie betätigt hat. Der Start-Sound sagt ihm zum Beispiel: Der Motor ist an. Denn der brummt und vibriert ja nicht wie bei einem Verbrenner. Oder ein interaktiver Fahr-Sound gibt Rückmeldung über die Geschwindigkeit. Diese ganze akustische Reise vom Öffnen der Autotür bis zum Aussteigen und zum Laden haben die Klangexperten in drei Versionen ausgestaltet. So wird die Fahrt zu einem ganzheitlichen Erlebnis inklusive Hörspaß – wenn der Fahrer das will. Wer lieber in der Stille über den Asphalt gleiten möchte, kann auch alles ausschalten.
Von der klassischen Gitarre zu elektronisch erzeugten Tönen
In die Audiowelt ist Baziany schon früh eingetaucht: Als Kind hat er klassische Gitarre gelernt, später noch weitere Saiteninstrumente. Als ihm klar wurde, dass Musik nicht nur analog entsteht, begann er mit Keyboard und Computer zu experimentieren. Es folgte ein Studium an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Da entwarf er unter anderem den Sound für Games und Filme. Später machte er Klänge für Werbung, für den deutschen Pavillon auf der Expo 2015 in Mailand oder das Haus der Berge in Berchtesgaden. Nebenher produzierte er Musik und tourte als Musiker durch Europa und die USA – bis er zu Mercedes kam. Das EQS-Projekt war eine ganz neue Herausforderung: Er machte nicht mehr Töne über Produkte, sondern für das Produkt selbst.
Die Sound-Entwürfe wurden auf der Mercedes-Teststrecke ausprobiert
Das Tolle daran: „Ein Elektro-Fahrzeug ist für einen Sounddesigner wie eine weiße Leinwand, die er frei bestücken kann.“ Und zwar nicht nur im Studio und Labor, sondern auch im Auto selbst. Dafür haben er und seine Teamkollegen eigens einen EQC (der Vorläufer des EQS) umgebaut und seine Soundsoftware gehackt. So konnten sie die inneren und äußeren Lautsprecher vom Laptop aus mit ihren Klang-Entwürfen ansteuern. Dann hieß es immer wieder: fahren, hören, anhalten, verbessern, fahren, hören … Unzählige Proberunden haben sie so gedreht, beim Sindelfinger Werk oder auf der großen Teststrecke in Immendingen, wo man auch mal richtig Tempo machen kann. Dabei die Stimme zu hören, die man selbst der Limousine gegeben hat – das findet Baziany grandios! „Danach wollte ich gar nicht mehr in mein eigenes Auto steigen“, schwärmt er. „Mit dem technologischen Fortschritt müssen auch wir Sounddesigner mitgehen. Beim EQS haben wir einen akustischen Innovationssprung hingelegt, der perfekt zum Auto passt.“
Verschiedene Klangwelten für jeden Geschmack
Um herauszufinden, was gut ins Ohr geht, haben sie über 100 Kollegen aus dem Konzern als Probanden bei Testfahrten mitgenommen. Vier Jahre lang hat das Team gehirnt, gemischt, programmiert, simuliert, ausprobiert und immer wieder optimiert. Das Ergebnis: drei verschiedene Klangwelten, von kraftvoll über sinnlich und klar bis spacig. Für jeden Kunden soll etwas dabei sein: jung oder alt, Mann oder Frau, Techno-Fan oder klassischer Mercedes-Kunde.
Nachgefragt
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Als ich herausfand, dass man mit elektronischer Klang-Erzeugung nicht nur komponieren, sondern auch Klänge für Filme, Games und Produkte gestalten kann, war mir klar: Das will ich mal beruflich machen.
Was reizt Sie am meisten?
Durch Sounddesign eine emotionale Verbindung zwischen Nutzer und Produkt zu schaffen, die sich natürlich anfühlt. Das ist die größte Challenge, der wir Tag für Tag gegenüberstehen.
Worauf kommt es an?
Herzblut und Begeisterung für die Sache sind das A und O. Erst wenn man sich einer Sache völlig verschreibt, hat das Ganze eine Chance auf Erfolg.
Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.
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