Hagen/Stolberg. Langsam zog die Katastrophe heran, sie näherte sich von Westen: Am Dienstag, 13. Juli 2021, öffnete der Himmel seine Schleusen über weiten Teilen Nordrhein-Westfalens und von Rheinland-Pfalz. Das Tiefdruckgebiet „Bernd“ sorgte 48 Stunden lang für extreme Niederschläge. Mancherorts fielen 150 Liter pro Quadratmeter, mehr als in einem normalen Juli.

Auch über der Stadt Stolberg bei Aachen begann es zu regnen. In der Nacht zum Donnerstag kam es zum GAU: Eine gigantische Flutwelle drückte sich Richtung Süden. Riss Bäume, Bänke, Autos – alles mit, was im Weg stand. Und ergoss sich in die anliegenden Häuser und Fabriken.

Belegschaft rechtzeitig evakuiert

Stark betroffen war auch das Aurubis-Werk, einer der führenden europäischen Hersteller von Bändern und Drähten aus Kupfer und Kupferlegierungen, das im Tal am Vichtbach liegt, der sich in einen Strom verwandelt hatte. Und Benjamin Cappi und seine rund 400 Mitarbeiter mussten feststellen, dass eine braune Brühe Maschinen und Technik geflutet hatte: „Zum Glück war kein Mitarbeiter zu Schaden gekommen, das ist die Hauptsache“, erzählt der Geschäftsführer, immer noch beeindruckt von der Jahrhundert-Katastrophe. Dass keine Opfer zu beklagen waren, lag auch daran, dass die Belegschaft schon am Tag zuvor evakuiert worden war.

„Die Solidarität war unglaublich groß. Das war sehr bewegend.”

Benjamin Cappi, Geschäftsführer von Aurubis in Stolberg

Nach dem ersten Schock packten Mitarbeiter und Chefs an: „Alle haben die Stiefel angezogen, zur Schaufel gegriffen und den Schlamm rausgeschafft“, so Cappi. Schon am nächsten Tag trafen Kollegen der Werkfeuerwehr von Aurubis in Hamburg ein, mit schwerem Gerät zum Aufräumen – und mit Pumpen, die in Baumärkten längst vergriffen waren. Auch Mitarbeiter aus anderen Aurubis-Werken leisteten Unterstützung. Cappi: „Die Solidarität war unglaublich groß, auch Kunden boten uns Hilfe an. Das war schon bewegend.“

Produktion wurde ab November Schritt für Schritt hochgefahren

Der Neustart erforderte einen gewaltigen Kraftakt. Das Aufräumen und Reinigen von Gebäuden und Maschinen dauerte Monate – bis zum Spätherbst Ende letzten Jahres.

Heute, fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Flut, läuft es wieder bei Aurubis, nachdem die Produktion ab November Schritt für Schritt hochgefahren wurde. Inzwischen arbeiten in der Fertigung bis auf wenige Nebenaggregate alle wichtigen Anlagen. „Glücklicherweise sind wir am Standort sehr gut versichert, sodass alle Schäden und auch Umsatzverluste durch Betriebsunterbrechungen weitgehend abgedeckt sind.“

Es ist also wieder Normalität eingekehrt – fast. Noch stehen auf dem Gelände Container. Denn auch die Erdgeschosse der Verwaltungsgebäude waren vollgelaufen. „Deshalb sitzen einige Kollegen noch in provisorischen Büros“, sagt der Geschäftsführer.

Längst nicht alle Betriebe waren ausreichend versichert

Beispiele wie Aurubis gibt es in NRW unzählige. Ob Autozulieferer, Maschinenbauer, Elektronikfirma oder Drahtproduzent: Landesweit traf es Tausende Betriebe. Genaue Zahlen gibt es nicht. Und längst nicht alle waren so gut abgesichert wie die Stolberger.

Auch in Südwestfalen hatte Tief Bernd seine Spuren hinterlassen. So war die Drahtzieherei Hagener Feinstahl (110 Mitarbeiter) förmlich abgesoffen. Die Wassermassen hatten die Informationstechnik und die Telefonanlage zerstört, das Vormateriallager und große Teile der Verwaltung in Mitleidenschaft gezogen. Beschädigt wurden auch die Maschinen, die nötig sind, um die Spezialdrähte herzustellen.

Nach der Flut standen Mitarbeiter im Drei-Schicht-Betrieb mit Hochdruckreinigern auf dem Hof und befreiten die dicken Draht-Coils von Schlamm und Dreck. Kollegen aus anderen Werken der Firmengruppe packten mit an. Der Sachschaden an Anlagen und Gebäuden summierte sich auf rund 4 Millionen Euro – das Unternehmen musste außerdem einen Umsatzausfall in Millionenhöhe verkraften, weil zwischenzeitlich in der Produktion rein gar nichts ging.

Sechs Wochen später der nächste Schock: In einer Halle brach ein Brand aus, der einen Teil des Unternehmens zerstörte.

Für einige kaputte Maschinen fehlen noch Elektronikteile

Inzwischen ist auch diesem Metallbetrieb der Neustart gelungen. „Wir waren schon nach drei Monaten betriebsbereit. Da ging schon wieder sehr viel“, erinnert sich Geschäftsführer Ingo Bender. Einige kleinere Maschinen würden noch nicht laufen, „da fehlen Elektronikteile, halt die aktuellen Lieferprobleme“. Einige Maschinen habe man erst mal notdürftig zusammengeflickt: „Das haben wir westfälisch pragmatisch gemacht.“

Ende Mai dieses Jahres wurden für viele Menschen böse Erinnerungen wach. Der Deutsche Wetterdienst hatte gleich für zwei Tage hintereinander vor heftigen Gewittern, Starkregen und der Gefahr von Tornados in Nordrhein-Westfalen gewarnt. Hagen und Stolberg kamen diesmal – im Gegensatz zu Ostwestfalen – mit dem Schrecken davon.

Doch Extremwetterlagen wie Tief Bernd werden in Deutschland zunehmen. Das weiß auch Aurubis-Geschäftsführer Benjamin Cappi: „Deshalb erweitern wir unsere Notfallmaßnahmen, zum Beispiel durch den Einsatz mobiler Barrieren, die sich binnen weniger Stunden aufstellen lassen.“

Und er appelliert an die Politik in Land und Kommunen, die Warnungen der Klimaforscher ernst zu nehmen und zu handeln: „Hier sind alle Verantwortlichen gefragt, weitsichtige Lösungen zu erarbeiten. Vor allem durch bessere Frühwarnsysteme, eine optimierte Kommunikation und einen insgesamt stärkeren Hochwasserschutz.“

2021: Negativ-Rekord bei Unwetterschäden

  • Dramatische Bilanz. Letztes Jahr haben die deutschen Versicherer nach aktuellen Angaben des Branchenverbands GDV das höchste Schadensaufkommen ihrer Geschichte verzeichnet. Hauptgrund war das Tief „Bernd“, das vor allem in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für verheerende Überflutungen sorgte.
  • Brutale Naturgewalten. Bundesweit summierten sich die versicherten Schäden durch Sturm, Hagel, Brände, Fluten und Starkregen auf rund 12,7 Milliarden Euro. Auf die Sachversicherung entfielen dabei 11 Milliarden Euro, die restlichen 1,7 Milliarden Euro betrafen die Kfz-Versicherung.
  • Trauriger Spitzenreiter. In Nordrhein-Westfalen belief sich der Gesamtschaden auf 5,5 Milliarden Euro. Auf Platz zwei folgte Rheinland-Pfalz mit fast 3 Milliarden Euro.
  • Unwetterereignis „Bernd“. Allein die Katastrophe im Juli 2021 führte bundesweit zu Schäden in Höhe von 8,2 Milliarden Euro. Betroffen war vor allem der Westen der Republik.
  • Zahlreiche Todesopfer. Das Sommer-Unwetter kostete über 180 Menschen das Leben. Die meisten kamen bei den Überschwemmungen im Ahrtal um.