Köln. Geschlossene Läden, übervolle Lager, Umsatzeinbrüche, drohende Insolvenzen – die Pandemie trifft die deutsche Bekleidungsbranche hart. „Rein wirtschaftlich betrachtet sind viele unserer Unternehmen im vergangenen Jahr mehr oder weniger Sanierungsfälle geworden“, sagt Gerd Oliver Seidensticker. Im Gespräch mit aktiv erklärt der Präsident des Modeverbands German Fashion, hauptberuflich Gesellschafter des Herstellers Seidensticker, warum er an ein Comeback der Branche glaubt – und wie Corona etablierte Modegewohnheiten verändert.
Hand aufs Herz: Wie geht es den Bekleidungsfirmen derzeit?
Nicht gut. Die Unternehmen sind extrem schwer belastet. Viele müssen einen Umsatzrückgang von weit über 20 Prozent für das gesamte Jahr 2020 verkraften. Bei Seidensticker ging der Umsatz in einigen Monaten um bis zu 70 Prozent zurück! Die Corona-Schutzmaßnahmen führen bei Herstellern und Händlern zu einer gewissen Perspektivlosigkeit. Trotz der damit einhergehenden Planungsunsicherheit sind viele sehr umtriebig und stellen sich den Herausforderungen.
Was heißt das denn konkret?
Kurz gesagt: Effizienter werden! Viele Unternehmen sind rein wirtschaftlich, nüchtern betrachtet, mehr oder weniger Sanierungsfälle geworden. Um da herauszukommen, müssen sie ihre Strukturen anpassen, Prozesse überdenken. Das ist in Ausnahmesituationen wie der jetzigen sehr wichtig. Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas und wie ein Turbobeschleuniger: Sie zeigt gnadenlos Schwachstellen auf – und beschleunigt vorhandene Trends.
Welche Trends meinen Sie da?
Da fallen mir vor allem zwei ein. Als Hemdenhersteller merken wir massiv, dass die Bereitschaft, sich im Geschäftsalltag klassisch oder förmlich zu kleiden, bei vielen stark abgenommen hat. Dieser Trend hat sich durch das Arbeiten im Homeoffice noch beschleunigt. Und eine generelle Entwicklung kommt dazu: Durch den Lockdown ist der Umsatz im Online-Handel mit Bekleidung auch absolut stark gestiegen.
Das muss ja auf Dauer nicht unbedingt schlecht sein.
Stimmt, aber die Unternehmen müssen sich darauf einstellen. Das ist schwer, wenn Veränderung in so einem ungesunden Tempo stattfindet. Bei Seidensticker hatten wir glücklicherweise schon vor der Krise einen hohen Online-Anteil am Umsatz, das hat uns geholfen. Persönlich habe ich als Kunde übrigens unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Bei manchen, auch bei namhaften Händlern oder Herstellern, hat die Lieferung für meinen Geschmack zu lange gedauert. Zwei, drei Tage zu warten, bis das Paket kommt, ist in Ordnung – nicht länger.
Bei allen Problemen: Sehen Sie auch Chancen in der Krise?
Auf jeden Fall. Die liegen etwa in einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Handel und Herstellern. Schließlich ist der Handel unser Hauptabsatzkanal, als Hersteller müssen wir lernen, wie wir uns mit ihm besser verknüpfen können, um schneller zu werden. Und der Handel lernt gerade, wie er seine Stärke in der Beratung vor Ort mit digitalen Anwendungen verbinden kann. Denn eins ist klar: Der Kunde akzeptiert nicht mehr so schnell, was man ihm im Laden präsentiert. Ist da nicht zu finden, was er will, ist er mit einem Klick online.
Was finden wir wohl in den nächsten Monaten in den Läden?
Wenn der Modehandel wieder ohne Einschränkungen öffnen kann, wird es reichlich Ware geben. Wahrscheinlich wird noch Ware aus Herbst und Winter nachgeschoben. Auch Rabatte werden wieder ein Thema sein. Es ist einfach zu viel Ware im Markt. Aber das Problem kannten wir schon vor der Pandemie.
Glauben Sie an einen richtigen Boom der privaten Nachfrage, wenn der Lockdown endet?
Natürlich wollen die Menschen nach so langem Verzicht wieder Geld ausgeben! Da steht die Mode aber oft nicht an erster Stelle. Wahrscheinlich wollen viele erst wieder reisen, um ihre Freiheit zu genießen. Auf Dauer wird dann auch die Lust auf Mode und neue Trends kommen. Bis unsere Branche wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht, wird es aber wohl Ende 2022 werden.
Hemden-Spezialist
- Seidensticker wurde 1919 gegründet und fertigt vor allem Hemden und Blusen in vier eigenen Werken – unter anderem in Indonesien und Vietnam.
- Das Unternehmen betreibt rund 30 Läden und einen eigenen Online-Shop. Hauptabsatzkanal ist der Fachhandel.
- Vor Corona machten die Bielefelder einen Jahresumsatz von knapp 180 Millionen Euro. Die Hälfte davon stammt aus dem Verkauf eigener Marken, hinzu kommt die Fertigung von Hemden und Blusen sowie Wirk- und Strickprodukten für nationale und internationale andere Unternehmen.
Mode-Industrie Wirtschaftlich angeschlagen
- 23.400 Beschäftigte hatte die deutsche Mode-Industrie 2020
- 350 Unternehmen sind im Verband „German Fashion“
- 23 Insolvenzen gab es letztes Jahr in der Branche
Quellen: Statistisches Bundesamt, Verband
Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.
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