Ein U-Boot ist kein Massenprodukt wie ein Pkw oder ein Fertighaus, sondern eine höchst komplexe Konstruktion, die aus Zehntausenden von großen und kleinen Einzelteilen besteht. Für den Bau müssen daher unzählige technische Zeichnungen erstellt werden, was einen erheblichen Aufwand mit sich bringt, auch für die Monteure in der Werfthalle.

Das war bei ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) in Kiel jahrzehntelang genauso, aber nun könnten sich die Dinge grundlegend ändern. Denn neuerdings kommen hier hochmoderne Computer-Brillen zum Einsatz, die dem Anwender in Echtzeit alle erforderlichen Daten als virtuelle 3-D-Darstellung liefern und das umständliche Hantieren mit technischen Zeichnungen und Unterlagen überflüssig machen.

Verbindung von analoger und digitaler Welt

„Die Holo-Brille ist ein Quantensprung“, sagt Stefan Lengowski. „Damit revolutionieren wir die Fertigung.“ Der Development Manager weiß, wovon er redet; er arbeitet seit 1994 bei TKMS und hat sich schon früh mit dem Einsatz von Augmented Reality (deutsch: erweiterte Realität) in der industriellen Produktion beschäftigt.

Lengowski: „Augmented Reality verbindet die analoge mit der digitalen Welt. Die Brille, die dabei zum Einsatz kommt, schottet den Nutzer – anders als eine Virtual-Reality-Brille – nicht komplett von der normalen Umgebung ab, sondern überlagert die Realität mit virtuellen Informationen und Objekten.“

Die Brille kam Anfang 2019 auf den Markt

Beispiel: Will ein Mitarbeiter eine Halterung anschrauben, sieht er nicht nur dieses Teil, sondern auch alle wichtigen Metadaten. Er erfährt, in welchem Winkel das Teil fixiert werden soll und welche Schrauben er dafür braucht. Das erleichtert die Arbeit und spart Zeit und Geld.

TKMS setzt die Holo-Brille nicht nur in der Montage ein, sondern auch in der Ausbildung.

Die Brille stammt aus den USA und ist ein Produkt des Computer-Konzerns Microsoft. Das Modell namens „HoloLens 2“ kam Anfang 2019 auf den Markt, wiegt etwa 560 Gramm und kostet im Handel rund 3.000 Euro. Projektleiter Lengowski: „Für unsere Zwecke ist die Brille perfekt, es gibt derzeit kein sinnvolles Alternativprodukt auf dem Markt. Allerdings kann sich das schnell ändern, denn auch Apple befasst sich gerade mit dem Thema.“

Ohne die richtige Software wertlos

Die beste Hardware nützt jedoch nichts ohne die richtige Software. Lengowski: „Hier gilt das Gleiche wie bei Computern und Smartphones – ohne die richtige Programmierung von Anwendungen ist die Brille unbrauchbar. Sie wird erst durch die Bestückung mit Software zu einem technischen Wunderwerk, das dem Anwender gleichzeitig als Foto- und Videokamera, Telefon, Bildschirm, virtuelle Tastatur und Scanner dient.“

Dass das im Arbeitsalltag von TKMS auch wirklich funktioniert, ist vor allem Finn Mecke zu verdanken. Der 26-jährige Softwareentwickler hat gemeinsam mit seinen Kollegen Sven Möller und Volker Widor die Programme geschrieben, mit denen sich die virtuellen 3-D-Grafiken aus dem Computer der Ingenieure und Entwickler in die Holo-Brille bringen lassen.

Die Resonanz in der Belegschaft ist sehr positiv

„Offen gestanden hätte ich nie gedacht, dass ich mal auf einer Werft lande“, erzählt Mecke. „Aber die Arbeit macht großen Spaß, und die Resonanz in der Belegschaft ist sehr positiv. Die allermeisten Kollegen sind richtig begeistert von der Brille und freuen sich darauf, mit ihr zu arbeiten.“

Projektleiter Lengowski nickt und sagt: „Die Akzeptanz ist wirklich phänomenal. Man muss ja sehen, dass wir hier in Kiel rund 3.500 Personen beschäftigen, und bei so einer großen Truppe wäre es ganz normal, wenn es Debatten über den Sinn solcher Innovationen gäbe.“

Auszeichnung für junge Studentin

Die gute Resonanz ist auch ein Ergebnis der Vorbereitung bei der Einführung der neuen Technik. TKMS profitierte hier von Erkenntnissen der Studentin Viktoria Stoßberg aus dem Masterstudiengang Medienkonzeption an der Fachhochschule Kiel. Sie analysierte im Rahmen ihrer Masterarbeit gemeinsam mit der Werft, wie sich smarte Brillen im industriellen Arbeitsumfeld einsetzen lassen.

Um die Frage der Akzeptanz zu klären, führte die Absolventin zahlreiche Interviews, unter anderem mit Facharbeitern, dem Werkarzt und dem Betriebsrat, dem Ergonomie- und dem Datenschutzbeauftragten und den werftinternen IT-Spezialisten. Das Ergebnis ihrer Arbeit überzeugte auch die Jury des renommierten „Kompass“-Preises, mit dem in Schleswig-Holstein innovative wissenschaftliche Arbeiten zu maritimen Themen gewürdigt werden. Viktoria Stoßberg belegte den ersten Platz und gewann damit ein Preisgeld von 3.000 Euro.

Azubis sind von der Technik begeistert

Für Stefan Lengowski eine schöne Bestätigung, dass er mit seinem Projekt auf dem richtigen Weg ist. „Die neue Technik soll assistieren“, sagt er. „Ihr Sinn ist definitiv nicht, Arbeit überflüssig machen. Das haben die Kollegen sofort verstanden, und deshalb sind sie mit großem Interesse dabei.“

Das gilt auch für den Ausbildungsbereich, wo die Brille schon regelmäßig Einsatz findet. Ausbildungsleiter Cem Selvi: „Die Holo-Brille wird auch die Qualität der Ausbildung steigern. Unsere Azubis sind richtig begeistert, die haben Lust und können damit umgehen.“

Projektleiter Stefan Lengowski sieht noch jede Menge Potenzial: „Wir stehen hier gerade erst am Anfang, und die Möglichkeiten sind aus meiner Sicht nahezu grenzenlos.“

Clemens von Frentz
Leiter aktiv-Redaktion Nord

Der gebürtige Westfale ist seit über 35 Jahren im Medienbereich tätig. Er studierte Geschichte und Holzwirtschaft und volontierte nach dem Diplom bei der „Hamburger Morgenpost“. Danach arbeitete er unter anderem bei n-tv und „manager magazin online“. Vor dem Wechsel zu aktiv leitete er die Redaktion des Fachmagazins „Druck & Medien“. Wenn er nicht für das Magazin „aktiv im Norden“ in den fünf norddeutschen Bundesländern unterwegs ist, trainiert er für seinen dritten New-York-Marathon.

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