Berlin. Das kann jedem passieren: Unfall, Kniegelenk kaputt, eine dauerhafte Beeinträchtigung droht. Gut, dass es künstliche Gelenke und Implantate gibt. Dennoch könnte es sein, dass der Arzt in so einem Fall bald nicht mehr helfen kann – weil das passende Teil nicht verfügbar ist! In Europa gibt es mehr als 450.000 Medizinprodukte, viele davon verschwinden derzeit vom Markt. Wegen einer EU-Richtlinie. Mediziner und Verbände schlagen Alarm: Sogar Menschenleben seien dadurch in Gefahr.
Das Paradoxe an der Richtlinie „Medical Device Regulation“: Sie wurde von der EU geschaffen, um für mehr Patientensicherheit zu sorgen – indem alle Medizinprodukte vom Verbandstoff bis zum Implantat aufwendig neu zertifiziert werden. Sogar Kondome und Hörgeräte zählen dazu. Doch jetzt droht durch die im Mai 2021 in Kraft getretene Richtlinie das Gegenteil.
Die Hersteller haben nun in einer Übergangsfrist bis Mai 2024 Zeit für die Zertifizierung, stoßen dabei aber auf hohe Hürden. Und sind deshalb sogar gezwungen, bestimmte Produkte vom Markt zu nehmen. Gefährliche Folge: Rund 30 Prozent aller Medizinprodukte könnten bald nicht mehr verfügbar sein, warnt der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed). Betroffen sind vor allem Spezialprodukte, die nur in geringer Stückzahl hergestellt werden.
Die Zertifizierungsstellen kommen nicht hinterher
In Krankenhäusern macht es sich schon bemerkbar. Hunderte Teile gibt es hier einfach nicht mehr. Es fehlten zum Beispiel bestimmte OP-Instrumente, heißt es bei der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft. Deren Chef Gerald Gaß berichtet, es gebe jetzt schon keine Ballonkatheter mehr, die für Neugeborene mit Herzfehlern benötigt werden. „Gut gemeint ist nicht gut gemacht“, sagt er über die Richtlinie. Sie habe sich als „bürokratisches Monster“ entpuppt. Und bewirke genau das Gegenteil vom eigentlichen Ziel. „Zahlreiche Medizinprodukte hängen nun in der Bearbeitungsschleife fest, wenn sie die Hersteller nicht gleich vom Markt genommen haben.“
Denn Personal und Ausstattung in den staatlich autorisierten Prüfstellen reichen gar nicht aus, um alle Produkte rechtzeitig zu zertifizieren!
Hersteller haben weniger Kapazitäten für Innovation
Der BVMed rechnet vor: Bis Mai 2024 müssten noch rund 24.000 Zertifikate ausgestellt werden, wobei das Verfahren für ein Produkt etwa 18 Monate dauert – die Menge sei schlicht „nicht realisierbar“. So würden zwangsläufig immer mehr lebensnotwendige Produkte vom Markt verschwinden.
aktiv fragte bei der Unternehmensgruppe Henke Sass Wolf aus Tuttlingen, einem Spezialisten unter unter anderem für Endoskopie, warum die Neu-Zertifizierung für Hersteller so aufwendig ist. Das Unternehmen begrüßt zwar die Absicht, Medizinprodukte sicherer zu machen, doch: „Die Anpassung der Prozesse ist bei uns seit Jahren in vollem Gange und bindet in allen Fachbereichen viele Ressourcen“, schildert Unternehmenssprecher Kevin Rodgers. Hintergrund: Auch die einzelnen technischen Produktionsschritte müssen aufwendig dokumentiert werden. „Das verursacht hohe Kosten.“ Und man habe dadurch nicht mehr so viele Kapazitäten für Zukunftsprojekte. „Es müssen nicht nur neue Produkte, sondern alle Bestandsprodukte noch mal neu zertifiziert werden, die seit Jahren erfolgreich im Einsatz sind“, verdeutlicht Rodgers. Dass die Zertifizierungsstellen dabei auch noch wie ein Nadelöhr wirkten, sei ein echtes Problem.
„Wir fürchten, dass sogar Prothesen knapp werden“
„Die Zeit drängt“, warnt BVMed-Geschäftsführer Marc-Pierre Möll. Die Zertifizierungskapazitäten müssten dringend ausgebaut werden. Und für Produkte, die schon lange erfolgreich im Einsatz sind, müsse es pragmatischere Lösungen geben als die komplette Neuzertifizierung. Für Nischenprodukte, wie die Ballonkatheter für Babys mit Herzfehlern, seien Ausnahmeregelungen notwendig. Bei Bedarf müsse auch die Umsetzungsfrist verlängert werden.
In Gefahr ist nicht nur die medizinische Versorgung der Bürger, sondern auch ein wichtiger Wirtschaftszweig mit vielen Arbeitsplätzen. Der BVMed schätzt, dass in Deutschland und Europa etwa 10 Prozent der Medizintechnik-Unternehmen wegen der „Medical Device Regulation“ keine Zukunft mehr haben, wenn die EU-Kommission jetzt nicht schnell gegensteuert.
Die Gesundheitsminister von 18 EU-Ländern sind besorgt
Nachdem jüngst sogar die Gesundheitsminister von 18 EU-Ländern bei einem Ministertreffen in Brüssel ihre Besorgnis über die kritische Situation erklärten, hat die EU-Kommission immerhin mitgeteilt: Sie arbeite an Lösungen für das Problem. Allerdings kommt es jetzt entscheidend darauf an, dass diese Lösungen auch schnell umgesetzt werden.
Denn: Jede Produktzertifizierung, die fristgerecht abgeschlossen sein soll, muss wegen der langen Zertifizierungsdauer noch in diesem Jahr beginnen. Deshalb treffen viele Unternehmen notgedrungen jetzt schon die Entscheidung, Medizinprodukte vom Markt zu nehmen.
Die Folgen sind zum Teil bereits nicht mehr aufzuhalten. Der Mediziner Professor Andreas Halder, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, befürchtet „dass wir einigen Patientinnen und Patienten bald sagen müssen: Es tut uns leid, wir müssen Ihren OP-Termin absagen, wir bekommen keine passende Prothese für Sie.“
Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.
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