Oberderdingen/Stuttgart. Viele seufzen erst mal, wenn der Chef sie auf eine Fortbildung schickt. Wer hat schon Lust, trockene Theorie zu pauken? Bei der „AgenturQ“ ist das anders. Diese Weiterbildungseinrichtung mit Sitz in Stuttgart wurde vor 16 Jahren gemeinsam vom Arbeitgeberverband Südwestmetall und der Industriegewerkschaft Metall gegründet. Und bietet maßgeschneiderte Lernkonzepte, die Beschäftigte sogar selbst mitgestalten.

So hat zum Beispiel Sandra Stocker die Freude an Weiterbildung entdeckt. „Eigentlich habe ich mal Fleischfachverkäuferin gelernt“, erzählt sie. Heute aber produziert sie Strahlungsheizkörper, die auf dem ganzen Globus in vielen Kochfeldern stecken. Bei der E.G.O.-Gruppe in Oberderdingen bei Karlsruhe, einem der weltweit größten Zulieferer für Hersteller von Hausgeräten, arbeitet sie an einer riesigen automatisierten Produktionsanlage. Wenn es eine Störung gibt, weiß sie genau, wo sie den Fehler suchen muss, behebt kleinere Fehler eigenständig und benötigt nur im Notfall Unterstützung durch einen Facharbeiter.

Mehr Abwechslung im Arbeitsalltag

„Früher war ich immer nur in der Montage. Heute bin ich Fertigungsfachkraft, Dispositionsfachkraft und Logistikfachkraft“, sagt Stocker stolz. So kann sie mehr Verantwortung übernehmen und hat im Alltag mehr Abwechslung.

Schon in den Anfängen der AgenturQ arbeitete die E.G.O.-Gruppe mit dieser Einrichtung zusammen, zum Beispiel im Projekt „Weiterbildung im Prozess der Arbeit“. Daniel Stricker, der bei E.G.O. in Deutschland die Personalentwicklung leitet, erklärt: „Die Lerninhalte werden hier nicht einfach von oben vorgegeben, sondern zunächst von den Beschäftigten selbst mitentwickelt.“ Das findet auch der Konzernbetriebsratsvorsitzende Bruno Nehring sehr gut: Die AgenturQ sei an das Thema Qualifizierung „mit einem völlig neuen Denkansatz“ herangegangen, beschreibt er, indem sie die Beschäftigten stark mit einbeziehe.

Die Lerninhalte werden zum Teil von den Beschäftigten selbst mitgestaltet

In der Praxis sieht das so aus: Mitarbeiterteams aus verschiedenen Produktionsbereichen setzen sich zusammen und überlegen, welche „Profile“ im Unternehmen gebraucht werden. Zum Beispiel: „Qualitätsfachkraft“ oder „Logistikfachkraft“. Dann stellen sie zusammen, was man für diese Aufgabe konkret können muss. Etwa: Wie füllt man leere Kanban-Kästen auf? Wie bestellt man neues Verpackungsmaterial? Daraus werden viele kleine Lernprojekte erarbeitet, die Schritt für Schritt Wissen vermitteln.

Nützlich ist das vor allem für An- und Ungelernte. In Workshops direkt im Produktionsumfeld können sie wichtiges Produktions-Know-how lernen, in Stufen vom „Anfänger“ bis zum „Profi“. Und bekommen dafür Zertifikate.

„So macht es richtig Spaß, Neues zu lernen“ 

„Das motiviert“, findet Mitarbeiterin Stocker. „So macht es richtig Spaß, Neues zu lernen!“ Ihr Chef Werner Kessler, der für eine Schicht in der Produktion der Strahlungsheizkörper verantwortlich ist, sagt: „Weil Frau Stocker sich in viele Richtungen qualifiziert hat, kann ich sie in verschiedenen Bereichen auch als Vertretung einsetzen.“ Kessler selbst hat sich von der AgenturQ übrigens zum „Lernberater“ weiterbilden lassen: Er begleitet Mitarbeiter beim Lernen mit der durch die AgenturQ entwickelten Methode.

Über 100 Mitarbeiter haben bei E.G.O. schon die Methodik der AgenturQ genutzt, darunter auch Patrick Hagmayer. Er fand die Lernprojekte sehr nützlich, obwohl er schon ausgebildeter Industriemechaniker ist, denn: „Man lernt die vielen verschiedenen Maschinen noch viel besser kennen.“ Für die Unternehmensgruppe, die am Stammsitz rund 1.850 und weltweit 5.800 Mitarbeiter beschäftigt, sind gute Weiterbildungskonzepte wichtig: weil die Belegschaft als tragende Säule des Erfolgs gesehen wird.

 

Stricker verdeutlicht: „Die Arbeitsabläufe werden immer komplexer.“ So entstehen bei E.G.O. auch immer wieder neue Lernprofile. Und Stricker arbeitet auch schon an einem ganz neuen Lernprojekt der AgenturQ mit. Thema: Weiterbildung für Industrie 4.0. Das Projekt wird gefördert vom Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg und soll die Beschäftigten für künftige Aufgaben fit machen, wie die Arbeit mit Robotern und die Fernwartung von Anlagen. Damit die Branche wettbewerbsfähig bleibt und Arbeitsplätze in Deutschland sichern kann.

Zusammen mit Vertretern anderer Pilotunternehmen und Wissenschaftlern hat Stricker in der ersten Phase dieses Projekts an der Bedarfserhebung und Konzeptentwicklung gearbeitet. „Es ist auch super, über die AgenturQ mit anderen Unternehmen in Kontakt zu kommen“, erzählt er.

Nun beginnt die Erprobungsphase. Bei einem Workshop aller Projektpartner macht der Geschäftsführer der AgenturQ, Stefan Baron, deutlich, worin ein wesentlicher Nutzen des neuen Weiterbildungskonzepts liege: „Wir sind der Zeit damit voraus.“

    Die weiteren Artikel des Themen-Specials:

    „Stinnes-Legien-Abkommen:“ So entstand vor 100 Jahren die Tarifautonomie

    Die „AgenturQ“ der Metall- und Elektro-Industrie ist eine Revolution in der Weiterbildung

    Warum Tarifautonomie so wichtig ist, nicht nur in der Metall- und Elektro-Industrie

    Auch hier sind Arbeitgeber und -nehmer gefragt

    Die Aufgaben der Tarifpartner in der Sozialen Marktwirtschaft sind vielfältig und gehen weit über die Entgeltfindung hinaus: Auch in vielen anderen Bereichen des Wirtschafts- und Arbeitslebens finden Vertreter von Arbeitgebern und -nehmern gemeinsam ideale Lösungen. Hier ein paar Beispiele.

    • Rente. Im Jahr 2001 gründeten die Tarifpartner der Metall- und Elektro-Industrie das Versorgungswerk MetallRente, das sich bis heute mit aktuell rund 700.000 Versicherten zum größten branchenübergreifenden industriellen Versorgungswerk in Deutschland entwickelt hat. Auch bei der neuen Rentenkommission sind Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern im Boot: Diese Kommission soll im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge erarbeiten, wie die gesetzliche Rente in Zukunft nachhaltig gesichert und fortentwickelt werden kann.
    • Arbeitsgericht. Auch hier spielen die Sozialpartner eine wichtige Rolle: Es urteilen grundsätzlich drei Richter gemeinsam – ein Berufsrichter und je ein ehrenamtlicher Richter aus den Reihen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.
    • Ausbildung. Hier modernisieren die Tarifpartner gemeinsam die Berufsbilder und machen sie so zukunftsfest. Schon ab August gibt es in der M+E-Branche neue Lehrinhalte zum Thema Digitalisierung. Denn um keine Zeit zu verlieren, haben die Sozialpartner extra ein „agiles“, also schnelles Verfahren zur Novellierung der Ausbildungsberufe entwickelt. Mehr dazu lesen Sie auf Seite 8.
    • Digitalisierung. Wie sie die Wirtschaft verändert, damit kennen sich die Tarifpartner sehr gut aus, deshalb werden sie auch bei der „Denkfabrik für die digitale Arbeitsgesellschaft“ eingebunden, die Bundesarbeitsminister Hubertus Heil jetzt in seinem Ministerium einrichten will. Ziel dieser Denkfabrik ist es, die Chancen und Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt ausführlich zu beleuchten.
    Barbara Auer
    aktiv-Redakteurin

    Barbara Auer berichtet aus der aktiv-Redaktion Stuttgart vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie Baden-Württembergs – auch gerne mal mit der Videokamera. Nach dem Studium der Sozialwissenschaft mit Schwerpunkt Volkswirtschaftslehre volontierte sie beim „Münchner Merkur“. Wenn Barbara nicht für aktiv im Einsatz ist, streift sie am liebsten durch Wiesen und Wälder – und fotografiert und filmt dabei, von der Blume bis zur Landschaft.

    Alle Beiträge der Autorin