Kreuztal. Preisfrage: Wie heißt das älteste Familienunternehmen im Lande? Bier ist das Nationalgetränk der Deutschen, ist also die 1753 gegründete Warsteiner Brauerei die Nummer eins? Nein, nur Platz 33. Porzellan kannten schon die Chinesen – ist vielleicht Villeroy & Boch der Sieger? Ebenso Fehlanzeige! Die 1748 in Mettlach (Saarland) gegründete Manufaktur landet auf Rang 31.

Die richtige Antwort: ein Unternehmen in Kreuztal, das seine Wurzeln im benachbarten Siegen hat und das heute The Coatinc Company heißt.

Dies fanden unlängst Historiker im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen heraus. Sie hatten über Monate in Archiven gestöbert, staubige Akten gewälzt und ausgeblichene Urkunden durchforstet.

Stahl in der 17. Generation

Man mag es kaum glauben: Das Unternehmen mit dem englischen Namen ist über ein halbes Jahrtausend alt! Und Geschäftsführer Paul Niederstein leitet den Oberflächenveredler mit Schwerpunkt Feuerverzinken in 17. Generation: „Wir sind in unserer langen Geschichte dem Produkt Stahl immer treu geblieben.“

Das Unternehmen ist längst ein internationaler Player geworden

Fragt man ihn nach der historischen Last auf seinen Schultern, muss er lachen: „Ganz im Gegenteil: Die lange Geschichte gibt Gelassenheit, denn ich habe die Gewissheit, dass die Firma wie ein Schiff auch sicher durch stürmische Zeiten gesteuert wird.“ Er sehe sich als Treuhänder des Erbes für künftige Generationen.

Das Schiff fährt zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter vollen Segeln: Die Holding – 49 Prozent hält ein englisches Familienunternehmen – beschäftigt in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Mexiko inklusive aller Beteiligungen mehr als 2.000 Menschen. Und erwirtschaftete im vergangenen Jahr 300 Millionen Euro.

„Für uns sind unsere Fahrer die ersten Repräsentanten der Firma beim Kunden“

Die Crew steuert auf Expansionskurs. In den letzten drei Jahren flossen insgesamt 50 Millionen Euro in hochmoderne Verzinkungslinien am Firmensitz Kreuztal, in eine neue Anlage in Mexiko und einen eigenen Fuhrpark. Niederstein: „Für uns sind unsere Fahrer die ersten Repräsentanten der Firma beim Kunden.“

Rückblende: 1502 in Siegen. Stahlschmiedemeister Heylmann Dresseler zahlte an den Fürsten hoch oben auf dem Berg den sogenannten Feuerschilling, um die örtliche Feuerstelle nutzen zu dürfen – der erste bekundete Beleg und der Beginn einer langen Familientradition mit dem Werkstoff Stahl.

Größter Verzinkungskessel Deutschlands fasst 760 Tonnen flüssiges Zink

Heute betreibt das Unternehmen den größten Verzinkungskessel in Deutschland. Fast 20 Meter lang, zwei Meter breit und gut drei Meter tief. Fassungsvermögen: 760 Tonnen flüssiges Zink.

Ein Kran taucht die Bauteile ins Becken: Karosserieteile und Bleche für die Auto-Industrie, Stahlträger, Leitplanken, Komponenten von Windkraftanlagen. Rund 450.000 Tonnen Stahl verzinken die Kreuztaler pro Jahr und benötigen dafür 25.000 Tonnen Zink.

Für Paul Niederstein ist das Feuerverzinken der beste Korrosionsschutz und außerdem sauber, ökologisch und völlig abfallfrei: „Denn der liebe Gott hat vorgesehen, dass Zink und Stahl bei 450 Grad Celsius heiraten und eine innige Verbindung miteinander eingehen.“ Dabei repariert die Verzinkung kleine Kratzer selbst – wie es Zink in der Salbe bei Wunden macht.

1860 stammte drei Viertel der deutschen Stahlproduktion aus dem Siegerland

Die Familiengeschichte ist eng mit dem Siegerland verbunden, in dem die Wiege der deutschen Stahl-Industrie steht – lange bevor jemand bei dem Wort Stahl an das Ruhrgebiet oder das Saarland dachte. Bereits 500 vor Christi Geburt gingen die Kelten dort in den bewaldeten Tälern der Metallgewinnung nach. Und noch 1860 stammte drei Viertel der deutschen Stahlproduktion aus dem Siegerland.

Es war die große Zeit der Stahlbarone an der Sieg, die bei Bonn in den Rhein fließt. Aus der Schmiede war längst ein Stahlkonzern geworden, der weltweit verkaufte. So lieferte das Unternehmen auch Stahl für den Bahnhof im niederländischen Groningen und die erdbebensichere Konstruktion der argentinischen Nationalbank.

Es waren zwei Familien – Klein und Dresler – die in Siegen an einer Straße wohnten und hin und wieder untereinander heirateten. Einer der schillernsten war Heinrich-Adolf Dresler, der Ururgroßvater von Paul Niederstein. Als Nationalliberaler saß der Ahn zu Kaiserszeiten im Reichstag.

Die Familie hat sich seit jeher politisch engagiert und stellte über 200 Jahre den Siegener Bürgermeister. Der heutige Geschäftsführer blickt zurück: „Es gab über Jahrhunderte für beide Seiten einträgliche Beziehungen zum Fürstenhof. Die konnten miteinander.“

Arbeit für Landfrauen im Winter

Und so sicherten sich die Dreslers das Monopol auf Kleineisen und Stahl. „Das war eine findige und hemdsärmelige Sippe in einer Gegend für robuste Kreaturen“, sagt Niederstein. Selbst beim Diebstahl geistigen Eigentums standen die Vorfahren heutigen Zeitgenossen in nichts nach: Sie klauten in Baden-Württemberg ein Webstuhl-Patent, verteilten 1.000 Webmaschinen auf die Bauernhöfe im Siegener Land, sodass die Landfrauen im Winter Arbeit hatten.

Während Paul Niederstein aus der über 500-jährigen Familienchronik plaudert, kommt Betriebsleiter Selam Vrangala und begrüßt ihn wie einen Freund. Die beiden kennen und schätzen sich seit fast 25 Jahren: „Als Selam bei uns anfing, habe ich hier einen Ferienjob gehabt“, sagt Niederstein.

Die Familie des gebürtigen Mazedoniers lebt seit 1971 in Deutschland, in dritter Generation. Sechs Angehörige arbeiten bei Coatinc. Sie teilen ihre eigene Familiengeschichte mit dem ältesten Familienunternehmen Deutschlands.

Die Stiftung Familienunternehmen stellt eine Übersicht der 35 ältesten Familienunternehmen Deutschlands bereit.

Familienunternehmen sind beim Aufbau neuer Jobs schneller als Konzerne

In Deutschland und Nordrhein-Westfalen blicken zahlreiche Familienunternehmen auf eine lange Tradition zurück. Neun dieser Firmen sind älter als 400  Jahre, so die aktuelle Erhebung der Stiftung Familienunternehmen. „Dies zeigt eindrucksvoll, dass Familienunternehmen von jeher ein untrennbarer Teil unserer Gesellschaft sind“, sagt Stefan Heidbreder, Geschäftsführer der Stiftung in München: „Sie sind im Grunde die Urform des Wirtschaftens überhaupt.“

Wissenschaftliche Studie belegt Erfolg

90   Prozent aller Unternehmen in Deutschland sind in Familienhand. Sie stellen fast 60 Prozent aller Arbeitsplätze und erzielen über die Hälfte des gesamten Umsatzes der privaten Wirtschaft. Die Familienunternehmen sind der Jobmotor schlechthin. Laut einer im Frühjahr veröffentlichten Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Instituts für Mittelstandsforschung haben die 500 größten Firmen in Familienhand zwischen 2007 und 2016 ihre Mitarbeiterzahlen am Standort Deutschland um 23 Prozent auf insgesamt 2,57 Millionen Stellen aufgestockt.

362 Milliarden Euro Umsatz allein in NRW

Die 27 börsennotierten Großkonzerne erzielten in diesem Zeitraum hingegen lediglich einen Zuwachs von 4 Prozent auf 1,55 Millionen Arbeitsplätze im Inland. Auch beim Umsatz fallen die Zahlen für die überwiegend mittelständischen Familienunternehmen besser aus. Im Zeitraum 2007 bis 2016 schafften sie im Schnitt ein jährliches Umsatzplus von 3,7  Prozent. Die börsennotierten Konzerne erreichten ein durchschnittliches Wachstum von 3 Prozent. 141 der größten Familienunternehmen haben ihren Sitz in NRW. Sie erzielten 2017 einen Gesamtumsatz von 362 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Brutto- inlandsprodukt von NRW betrug 685 Milliarden Euro.

Das Rückgrat der Wirtschaft

  • 90 Prozent aller Betriebe in Deutschland sind in Familienhand.
  • Sie stellen 58 Prozent aller Arbeitsplätze.
  • 52 Prozent des gesamten Umsatzes der Wirtschaft entfällt auf diese Unternehmen.

Stand: 2017; Quelle: Stiftung Familienunternehmen