Wenn Kinder erkranken, gehen Eltern meist davon aus, dass es spezielle Medikamente in der richtigen Dosierung für die kleinen Patienten gibt. Doch Schätzungen zufolge sind mehr als 50 Prozent der Arzneimittel, die man bei Kindern einsetzt, nicht an ihnen erprobt. Das Biopharma-Unternehmen AbbVie (30.000 Mitarbeiter weltweit, davon 2.600 in Deutschland, über 29 Milliarden Euro Umsatz 2018) hat es sich zur Aufgabe gemacht, seine Wirkstoffe auch für diese Zielgruppe zu entwickeln. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, erklärt Henning Kleine, medizinischer Direktor von AbbVie Deutschland und Chef von rund 125 Mitarbeitern. Daher sei es wichtig, dass die Darreichungsformen und Dosierungen von Wirkstoffen an den kindlichen Körper angepasst seien: „Gerade kleine Kinder haben einen anderen Stoffwechsel. Die Leber- und Nierenfunktionen sind zum Beispiel noch nicht ausgereift.“

Kindgerechte Darreichungsform

Dem Wissenschaftler, selbst Vater von drei Jungen, ist es wichtig, dass Ärzte um die richtigen Mengen und eine kindgerechte Form der Medikamenteneinnahme wissen: „Unsere Wirkstoffe bekämpfen schwere Erkrankungen. Da reichen Einmalgaben oder kurze Therapiezeiträume nicht aus“, erklärt der Biologe.

Viele der kleinen Patienten müssen die Wirkstoffe über Monate oder Jahre einnehmen. Ein Schwerpunkt von AbbVie sind Autoimmunerkrankungen wie Gelenkrheuma, chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder bestimmte Formen der Schuppenflechte. Hier hat AbbVie in den vergangenen Jahren sechs Zulassungen für Kinder und Jugendliche erhalten.

Dazu kommen die Bereiche Krebs und Infektionskrankheiten, etwa Hepatitis C. Geforscht und produziert wird am Standort Ludwigshafen, dem zweitgrößten Forschungsstandort des Unternehmens.

„Wenn wir Medikamente entwickeln, stimmen wir uns sehr früh mit den Behörden ab und legen ein pädiatrisches Prüfkonzept vor“, sagt Kleine. Das steht in Einklang mit der 2007 gesetzlich verabschiedeten Kinderverordnung, welche die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder und Jugendliche erleichtern und deren Qualität verbessern soll.

Dieser „paediatric investigation plan“, unter Fachleuten schlicht „PIP“ genannt, wird von einem für Kinderarzneimittel zuständigen Ausschuss der Europäischen Arzneimitte-Agentur EMA bearbeitet. Kleine: „Wir legen damit gegenüber den Behörden dar, ob das Medikament Kindern und Jugendlichen nützen kann. Und wenn ja, wie man es dann am besten entwickelt.“

Eine Herausforderung sind zum Beispiel Tabletten, welche Kleinkinder aufgrund ihrer Größe nicht oder nur schwer schlucken können. „Wer selbst Kinder hat, weiß, wie schnell sie eine Gegenwehr aufbauen“, so der medizinische Direktor. Auch flüssige Lösungen haben ihre Tücken, da sie oft auf Alkohol basieren und manche Mittel sich darin nicht auflösen.

Deshalb erforscht AbbVie für seine Wirkstoffe gegen Hepatitis C und Leukämien im Kindesalter gerade Granulate und Pulver, die man zum Beispiel in Brei oder Joghurt einrühren kann. Um solche Therapien auf den Markt zu bringen, sind aufwendige Prozesse erforderlich. Grundsätzlich gilt: Erst wenn neue Arzneien erfolgreich an Erwachsenen erprobt wurden, kommt eine Studie an Kindern infrage.

49 neue Wirkstoffe für Kinder

„Wirkstoffe, die sich bei Erwachsenen bewährt haben, eignen sich oft auch zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen“, erläutert Kleine. Ob das wirklich stimmt, muss eine Studie beweisen, die man ausschließlich an kranken Kindern durchführt.

Es ist jedoch gar nicht so einfach, die erforderliche Patientenzahl dafür zu erreichen: „Manchmal benötigen die Studienzentren mehrere Hundert Teilnehmer. Da Kinder von den meisten Krankheiten zum Glück viel seltener betroffen sind als Erwachsene, finden sich manchmal nur schwer Probanden“, sagt der Wissenschaftler. Die Durchführung der Kinderstudie kann so mehrere Jahre dauern.

Eine erweiterte Zulassung von Wirkstoffen für Kinder ist also aufwendig und teuer: Allein die Studie kostet Millionen Euro. Zum Glück setzt das Unternehmen auf Forschung und Entwicklung, 2018 betrug der Etat 16,5 Prozent des Umsatzes. In Deutschland wurden 2018 übrigens insgesamt 49 neue Wirkstoffe und Darreichungsformen für Kinder und Jugendliche zugelassen.

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Sabine Latorre
Leiterin aktiv-Redaktion Rhein-Main

Dr. Sabine Latorre ist spezialisiert auf Themen aus der Chemie- und Pharma-Industrie. Sie liebt es, komplizierte Zusammenhänge einfach darzustellen – so schon vor ihrer Zeit bei aktiv als Lehrerin sowie als Redakteurin für die Uniklinik Heidelberg und bei „BILD“. Nebenbei schreibt sie naturwissenschaftliche Sachbücher für Kitas und Schulen. Privat reizen sie Reisen sowie handwerkliche und sportliche Herausforderungen.

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