Ingolstadt. Wie jeden Morgen kommt Eileen Sterner zu spät. Ihre Schicht in der Lackiererei des Autoherstellers Audi in Ingolstadt hat schon längst begonnen. Doch das ist kein Problem, im Gegenteil: Das ist sogar so gewollt! Denn die junge Frau arbeitet in Teilzeit – und da braucht sie nicht die komplette Stundenzahl ihrer Schicht anwesend zu sein.
Wie das geht? Möglich macht dies ein innovatives Pilotprojekt zum flexiblen Einsatz in der Schicht, das der Autohersteller seit einiger Zeit umsetzt. Entwickelt haben es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Hierarchiestufen sowie Mitglieder des Betriebsrats gemeinsam mit dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung aus München.
Eileen Sterner ist eine von 16 Kolleginnen und Kollegen, die nun das Modell nutzen. „Das ist ja wie ein Sechser im Lotto“, hat die zweifache Mutter gedacht, als sie zum ersten Mal hörte, dass sie trotz Schichtarbeit in Teilzeit gehen kann. Für sie ist es eine „große Chance“, Familie und Beruf besser in Einklang zu bringen. Bis zum Projektstart galt nämlich, dass ein Beschäftigter am Band, der Teilzeit arbeiten wollte, in diesem Fall zwangsläufig auf einen anderen Arbeitsplatz wechseln musste.
Diese Vorgabe entfiel, als Sterner frisch aus der Elternzeit in den Job zurückkehrte: Sie startete im Pilotprojekt. Doch wie funktioniert das Modell?
Springer übernehmen den Job, wenn der Schichtkollege früher nach Hause geht
Immer dann, wenn ein Schichtkollege seinen Einsatz vorzeitig beendet oder später startet, springt ein Beschäftigter aus einem anderen Bereich für ihn ein und übernimmt dessen Aufgaben. Das können zum Beispiel Auszubildende sein, Mitarbeiter mit Einschränkungen, die aus gesundheitlichen Gründen keine ganze Schicht bewältigen, oder Angestellte aus der Lackiererei, die keine festen Schichtzeiten haben. Rund 30 Beschäftigte stehen derzeit dafür bereit.
Wenn Eileen Sterner etwa morgens zunächst ihre Kinder zur Kita bringt, springt Serkan Kocatürk für sie ein, ein Auszubildender aus der Lackiererei. Der Einsatz sei klasse, findet Kocatürk: „Zum einen lerne ich dadurch immer wieder etwas Neues hinzu und knüpfe neue Kontakte“, sagt er. „Zum anderen ist es auch ein schönes Gefühl, Kolleginnen oder Kollegen zu helfen.“
Entsprechend gleicht der Schichtplan einem großen Puzzle. Dafür ist Michael Kusber verantwortlich. Er koordiniert in der Lackiererei den Einsatz der Beschäftigten: „Es ist ein großer organisatorischer Aufwand, die Arbeitszeiten so zusammenzupuzzeln, dass es für alle passt“, gibt er unumwunden zu.
Und auch bis das Pilotprojekt starten konnte, dauerte es seine Zeit. Die konzeptionelle Arbeit im sogenannten Praxislaboratorium, das sich mit flexibler Schichtarbeit beschäftigte, startete im Juli 2019. Die ersten flexiblen Einsätze von Teilzeit-Mitarbeitenden und der sie ergänzenden Springer fanden dann ab Oktober 2019 statt.
Einzigartig in Deutschland sei vor allem gewesen, Beschäftigte aus allen Ebenen des Unternehmens auf diese Weise ihre Arbeitszeit mitgestalten zu lassen. Initiativen wie diese zeigen, dass die besten Ideen aus dem Unternehmen selbst kommen, davon sind die Ingolstädter überzeugt.
Zeiterfassung und Abrechnung sind eine Herausforderung
Doch auf dem Weg zu diesem für alle Seiten befriedigenden Modell gab es auch einige Hürden zu überbrücken. Achim Heinfling, der Werkleiter in Ingolstadt, erklärt: „In einer hocheffizienten, eng getakteten Fahrzeugproduktion sind flexible Arbeitszeiten viel schwieriger umzusetzen als in einem Job, der am Schreibtisch stattfindet.“
Das fing etwa schon bei der Abrechnung der Arbeitszeiten an: Pro Schicht kann das Software-System immer nur einen Mitarbeitenden abrechnen, auch wenn er oder sie nur in Teilzeit arbeitet. Durch enge Abstimmung der Beteiligten konnte diese Herausforderung für den Pilotbereich gelöst werden. Das Personalmanagement arbeitet jetzt allerdings weiter an einer langfristigen Lösung.
Auch andere Bereiche der Produktion könnten in Zukunft das flexible Modell einführen
Denn Audi denkt schon weiter. Das Unternehmen möchte die neuen Erkenntnisse des flexiblen Arbeitszeitmodells aus dem Praxislaboratorium in Zukunft auch für weitere Fertigungsbereiche nutzen. Man prüft, inwieweit dieses Modell auf andere Teilbereiche der Produktion übertragen werden kann. Der Anspruch des Automobilherstellers ist es, eine moderne Zusammenarbeitskultur für alle Mitarbeitenden voranzutreiben.
So könnten demnächst auch andere Kolleginnen und Kollegen von mehr Flexibilität profitieren – und wie Eileen Sterner ihre Schichtarbeit in Teilzeit ausüben.
Alix Sauer hat als Leiterin der aktiv-Redaktion München ihr Ohr an den Herausforderungen der bayerischen Wirtschaft, insbesondere der Metall- und Elektro-Industrie. Die Politologin und Kommunikationsmanagerin volontierte bei der Zeitungsgruppe Münsterland. Auf Agenturseite unterstützte sie Unternehmenskunden bei Publikationen für Energie-, Technologie- und Mitarbeiterthemen, bevor sie zu aktiv wechselte. Beim Kochen und Gärtnern schöpft sie privat Energie.
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