Die Orkneyinseln sind ein dünn besiedelter Archipel vor der Küste Nordschottlands. Dank der örtlichen Verhältnisse – viel Landschaft, wenig Menschen und jede Menge Wind – liefern sie optimale Bedingungen für eine umweltfreundliche Energiegewinnung. Auf den 70 Inseln, von denen lediglich 20 bewohnt sind, stehen rund 700 Windräder. Sie liefern mehr Strom, als die 22.000 Einwohner verbrauchen. Der Überschuss wird daher teilweise direkt in „grünen“ Wasserstoff umgewandelt.

Neuerdings wird dort noch eine andere Kraftquelle der Natur angezapft: die Energie des Mondes, die bei uns auf der Erde in Form der Gezeiten spürbar ist – eine regelmäßige Verschiebung gigantischer Wassermassen, ausgelöst durch die Anziehungskraft des Erdtrabanten.

Ebbe und Flut sorgen für starke Strömungen

Wo Ebbe und Flut sich zwischen Inseln hindurchzwängen, entstehen starke Strömungen. Und diese sind vor den Orkneys besonders kräftig, weshalb hier seit einigen Jahren mit Meeresströmungskraftwerken experimentiert wird.

Eine der hier tätigen Forschungseinrichtungen ist das European Marine Energy Centre (EMEC), das im größten Gezeitenstrom Europas angesiedelt ist: dem Pentland Firth. Das EMEC ist mittlerweile Europas führendes Entwicklungscenter für Gezeiten- und Wasserströmungstechnologien.

Leistung von zwei Megawatt

Daher war es genau der richtige Partner für ein ehrgeiziges EU-Modellprojekt zur Gewinnung von Strom aus Meereskraft. Das nötige Know-how und die wesentlichen Elemente dafür lieferten das Unternehmen SKF und das schottische Start-up Orbital Marine Power, das als Marktführer für Tidenkraftwerke gilt. So entstand eine schwimmende Anlage, die mit einer Leistung von zwei Megawatt (MW) die weltweit stärkste Tidenturbine im Echtbetrieb ist und 2.000 Haushalte mit Energie versorgen kann.

„Orbital O2“ wirkt auf den ersten Blick wie ein kurioser Zwitter aus Raumschiff Enterprise und dem Airbus A380. Und tatsächlich hat die Anlage mit ihren 72 Meter Länge und einem Gewicht von rund 680 Tonnen ähnliche Dimensionen wie das Großraumflugzeug.

Rotoren mit 20 Meter Durchmesser

Auch tragflächenartige Arme hat die Konstruktion, aber an ihnen hängen keine Düsentriebwerke, sondern zweiflügelige Rotoren, auf jeder Seite einer. Sie haben einen Durchmesser von je 20 Metern und somit eine Gesamtrotorfläche von 600 Quadratmetern – also vergleichbare Werte wie die leistungsstärksten Windturbinen in den frühen 80er Jahren.

Das Herzstück des Gezeitenkraftwerks lieferte SKF aus Deutschland

Allerdings werden sie nicht vom Wind angetrieben, sondern – rund 15 Meter unter der Wasseroberfläche – von der Gezeitenströmung im Meer. Der in den Generatoren erzeugte Strom wird über ein Seekabel an Land geleitet und kann dort direkt ins Netz eingespeist, gespeichert oder per Elektrolyse zu Wasserstoff verarbeitet werden.

Auch größere Rotorblätter sind möglich

Die Rotorblätter selbst lassen sich um 360 Grad drehen. Diese dynamische Steuerung maximiert den Wirkungsgrad des Kraftwerks – gleichgültig, in welche Richtung die Tiden gerade strömen.

Dank dieser Anpassungsfähigkeit erübrigt es sich auch, den gesamten Schwimmkörper regelmäßig nach der Strömungsrichtung der Gezeiten auszurichten. Außerdem ermöglicht die Steuerung, in Zukunft sogar noch größere Rotorblätter zu verwenden.

Zahlreiche Elemente der Anlage kamen von SKF

SKF ist dabei weit mehr als nur Hersteller der großen Rotorenlager. Tatsächlich lieferte das hauseigene „Marine and Ocean Energy“-Team in Kooperation mit dem Team von „Special Products Schweinfurt“ unter der kommerziellen Leitung von Michael Baumann den kompletten, voll integrierten Antriebsstrang als „Plug & Play-Modul“. Somit steigt SKF gewissermaßen vom Komponentenlieferanten in die Liga der Kraftwerkshersteller für die Energiewende auf.

Matthias Hofmann, technischer Leiter für den Bereich „Marine und Ocean Energy“: „SKF-Kernkompetenz steckt bei diesem Projekt nicht nur in den Hauptlagern und in den Schwenklagern für die Rotorblattverstellung, sondern auch in den Seewasserdichtungen der Hauptwellen zwischen Rotornabe und Gondelgehäuse, die von SKF Marine in Hamburg geliefert werden.“

SKF Marine entstand als Tochter der Werft Blohm + Voss

SKF Marine hat jahrzehntelange Erfahrung im maritimen Bereich. Der Schiffbauzulieferer war früher ein Geschäftsbereich der Traditionswerft Blohm + Voss und wurde Anfang 2013 von der schwedischen SKF-Gruppe übernommen. Der Betrieb beschäftigt rund 400 Mitarbeiter und hat seinen Sitz nach wie vor im Hamburger Hafen.

Außerdem lieferte SKF das Getriebelager und die Zustandsüberwachung „CoMo“, mit der das Gesamtsystem kontrolliert wird. Zahlreiche Komponenten im Inneren der zwei Antriebsstränge ergänzen die von SKF gelieferten Anteile – Generator, Getriebe und Bremssystem kommen von spezialisierten Zulieferern.

Positive Effekte für die Tier- und Pflanzenwelt

Michael Baumann, Business Development Manager für die SKF-Sparte „Marine and Ocean Energy“, sieht mittelfristig einen hohen Bedarf für Gezeitenkraftwerke. Anlagen wie das Orbital-Projekt ergänzen aus seiner Sicht perfekt die umweltfreundliche Stromherstellung aus Sonnen- und Windkraft. „Die Gezeiten sind verlässlich“, so Baumann, „der Stromfluss ist berechenbar und die Energiedichte durch das Arbeitsmedium Seewasser sehr hoch.“

Ein entscheidender Vorteil von schwimmenden Anlagen wie „Orbital O2“ ist die geringe Belastung der Natur. Denn herkömmliche Gezeitenkraftwerke funktionieren ähnlich wie Wasserkraftwerke an Stauseen und Flüssen – die Strömung treibt Turbinen an, die in einer Staumauer installiert sind. Bauwerke dieser Größenordnung beeinträchtigen aber sowohl das Landschaftsbild als auch die Tier- und Pflanzenwelt. Vor allem die Fischpopulation leidet.

SKF-Deutschlandchef Martin Johannsmann zuversichtlich

Bei Anlagen wie „Orbital O2“ kann das nicht passieren, da sie lediglich von einem Schlepper zu ihrem Bestimmungsort gezogen und dort verankert werden. Und sollte einmal eine größere Reparatur oder eine Wartung erforderlich sein, löst man einfach die Ankerketten und schleppt die Konstruktion in eine Werft, die diese Arbeiten im Dock erledigen kann. Das reduziert die laufenden Kosten erheblich.

Insofern ist auch SKF-Deutschlandchef Martin Johannsmann zuversichtlich. „Momentan sind wir beim Thema Tidenturbinen ungefähr so weit wie bei der Windkraft vor 35 Jahren, als es die ersten öffentlich geförderten Prototypen wie die Modellanlage Growian gab“, sagt er. „Noch befinden wir uns im Prototypen-Stadium, aber wir glauben, dass wir in drei bis fünf Jahren in die kommerzielle Phase der Serienproduktion kommen können.“

Positive Prognose der EU

Als potenzielle Standorte für Gezeitenkraftwerke eignen sich Küsten mit ausgeprägtem Tidenhub. „In Europa gilt das für Schottland und alles rund um die Britischen Inseln, aber auch die französische Atlantikküste“, sagt Johannsmann. „Das nördliche Seegebiet zwischen China und Korea wäre ebenfalls sehr gut geeignet, ebenso die Ostküste der USA und Kanadas. Es sind wahrscheinlich ein Dutzend Regionen rund um die Welt.“

Auch die EU glaubt an das Potenzial derartiger Kraftwerke, nachzulesen in einer „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen“ vom November 2020.

Fördermittel sollen die Entwicklung beschleunigen

In dem Paper mit dem Titel „Eine EU-Strategie zur Nutzung des Potenzials der erneuerbaren Offshore-Energie für eine klimaneutrale Zukunft“ heißt es: „Die Kommission wird mit den Mitgliedstaaten und Regionen einschließlich Inseln zusammenarbeiten, um die verfügbaren Mittel in koordinierter Weise für Meeresenergie-Technologien zu nutzen und in der gesamten EU bis 2025 eine Gesamtkapazität von 100 Megawatt und bis 2030 von rund einem Gigawatt zu erreichen.“

Um dieses ehrgeizige Ziel realisierbar zu machen, unterstützt die EU die Forschung und Entwicklung mit zahlreichen Programmen, von denen auch das O2-Projekt profitierte. Es erhält sowohl Fördermittel von der Europäischen Union aus deren Forschungs- und Entwicklungsprogramm Horizon 2020 (Flotec) als auch aus EU-Regionalfördertöpfen für Nordwest-Europa (ITEG).

Clemens von Frentz
Leiter aktiv-Redaktion Nord

Der gebürtige Westfale ist seit über 35 Jahren im Medienbereich tätig. Er studierte Geschichte und Holzwirtschaft und volontierte nach dem Diplom bei der „Hamburger Morgenpost“. Danach arbeitete er unter anderem bei n-tv und „manager magazin online“. Vor dem Wechsel zu aktiv leitete er die Redaktion des Fachmagazins „Druck & Medien“. Wenn er nicht für das Magazin „aktiv im Norden“ in den fünf norddeutschen Bundesländern unterwegs ist, trainiert er für seinen dritten New-York-Marathon.

Alle Beiträge des Autors