Köln. Der Kerl traut sich was! Mit neugierigem Blick wuselt der kleine Louie über das weitläufige Gelände der Tagesstätte. Vor der Januarkälte schützt ihn ein blauer Wollpulli, er hält mal hier, schaut mal dort, und vor den etwas Größeren hat er so gar keinen Respekt. Ganz selbstverständlich ist das nicht, weiß Jannine Gorju, die Leiterin der Betreuungseinrichtung. „Louie ist neu, heute ist sein erster voller Tag hier bei uns“, sagt sie. „Supermutig“ sei der Zwerg, und just als Gorju das sagt, hockt sich Louie hinter ihr in den Sand – und verrichtet sein Geschäft.
Was ihm hier keiner übel nimmt, klaro. Denn Louie ist, man ahnt es längst, kein kleiner Junge. Sondern ein Hund. Ein winziger Toy-Pudel, keine fünf Monate alt. Und Jannine Gorju mag klingen wie die Leiterin eines Kindergartens. Doch sie führt: eine Huta – eine Hundetagesstätte!
50 Prozent mehr Haustiere als noch im Jahr 2010
Babyhunde im Wollpulli, die in Hutas gehen – das beschreibt schon mal ganz gut, worum es gehen soll in dieser Geschichte: um die innige Liebe der Deutschen zum Haustier. Und darum, dass rund um die tierischen Lieblinge mittlerweile eine milliardenschwere Industrie entstanden ist: die Pet-Economy. Immer mehr Produkte, immer mehr Dienstleistungen drängen auf den Markt. Und sogar die sonst so nüchternen Finanzmärkte schienen unlängst wegen der Haustier-Hausse mal kurz durchzudrehen. Aber dazu später mehr.
Zuerst vielleicht mal ein paar Zahlen. Im Jahr 2020 (ja, das sind die aktuellsten Daten) lebten laut dem Marktforschungsinstitut Skopos rund 35 Millionen Hunde, Katzen, Ziervögel und Kleinsäuger in deutschen Haushalten. Das sind sage und schreibe 50 Prozent mehr als noch im Jahr 2010! Fische und Terrariengetier sind da übrigens noch gar nicht mitgerechnet. Jedenfalls: Fast die Hälfte aller Haushalte hat aktuell ein tierisches Familienmitglied.
Und das kostet. So setzte die deutsche Heimtierbranche zuletzt allein mit Fertignahrung, Bedarfsartikeln und Zubehör von der Hundeleine bis zum Vogelkäfig rund 5,5 Milliarden Euro um! Ein neuer Rekord.
Gründe für den Boom gibt es einige. Corona zum Beispiel. „Stimmt, die Pandemie hat nochmals zu einer merklichen Steigerung der Haustierpopulation geführt, besonders bei Hunden und Katzen“, bestätigt Dieter Meyer vom Industrieverband Heimtierbedarf (IVH) im Gespräch mit aktiv. Um eine Million nahm die Zahl der Haustiere laut Statistik allein im ersten Jahr der Pandemie zu. Wohl auch, weil Homeoffice die Entscheidung pro Tier leichter machte.
Aber: Die Neigung zum Heimtier steigt wie gesagt seit Jahren. Auch, weil die wachsende Stadtbevölkerung im Haustier so was wie den letzten Draht zur Natur sieht, wie Experten glauben. Und da wäre auch noch die steigende Zahl der Haushalte mit Singles, die abends ganz gern zumindest von einer Katze begrüßt werden wollen.
Tierfutter gibt’s glutenfrei, bio oder kalorienreduziert
Aber da ist noch was: Auf leisen Pfoten sozusagen sind Haustiere hierzulande die soziale Leiter emporgeklettert. Dieter Meyer: „Anders als früher werden Tiere heute als echte Familienmitglieder gesehen, sie sind in die Rolle eines Partners in der Lebenswelt des Menschen aufgestiegen.“ Im Klartext: früher Wachhund, heute Schoßhund!
Die Folge dieser Entwicklung: „Eine vollkommen neue Waren- und Servicewelt hat sich rund ums Tier entwickelt.“ Auffällig dabei: Zuvor beim Menschen erfolgreiche Trends wiederholt die Pet-Economy etwas später beim Haustier. Im Napf beispielsweise kann man das gut sehen. „Kalorienreduzierte, biologisch angebaute oder auf spezielle Bedarfe wie die von Senioren oder Sportlern abgestimmte Nahrungsmittelangebote kennen wir für Menschen schon lange. Und die gibt’s nun eben auch fürs Tier!“ Tatsächlich: Tierfutter ohne Gentechnik, glutenfrei, mit Vitaminen angereichert oder gar vegan – alles mittlerweile im Fachhandel zu haben. Gleiches Bild bei Bedarfsartikeln wie Tierspielzeug. „Hier geht der Trend weg vom Plastik und hin zu natürlichen, nachhaltigen Materialien“, so der Experte.
Tierliebe als Jobmotor
All das hat seinen Preis – und da kommt ganz schön was zusammen. So hat der Deutsche Tierschutzbund berechnet, dass ein Hund über sein gesamtes Leben hinweg insgesamt 12.000 bis 17.000 Euro kostet, je nach Größe des Tieres. Eine Katze ist nicht wirklich billiger, auch sie schlägt demnach mit mindestens 12.000 Euro zu Buche.
Das sind Zahlen, die IVH-Mann Meyer sich jetzt so nicht zu eigen machen will. Aber auch er sagt: „Klar, da kommt im Lauf der Zeit was zusammen.“ In der Regel aber stellten Tierhalter für ihre Lieblinge kein Budget auf, „das tun sie für Kinder ja auch nicht“.
Zu welch bedeutendem Wirtschaftsfaktor die deutsche Tierliebe derweil geworden ist, das weiß kaum jemand besser als die Göttinger Wirtschaftsprofessorin Renate Ohr. „Insgesamt bewirkt die Heimtierhaltung schätzungsweise jährliche Umsätze von über 10 Milliarden Euro“, bilanziert Ohr in ihrer jüngsten Heimtierstudie. Diese wurde sogar noch vor Corona abgeschlossen. Für die Professorin ist die deutsche Tierliebe damit ein echter Jobmotor: Über 210.000 Vollzeitarbeitsplätze hängen nach ihren Berechnungen vom Heimtier ab. In Hundeschulen, bei Tierfriseuren, Physiotherapeuten, Tierhotels, Heilpraktikern, Futterproduzenten. Und auch, tja, Tierbestattern.
Oder eben hier, in der Hundetagesstätte „Dogs Place“ von Jannine Gorju im Kölner Osten. Toy-Pudel Louie, der Winzling vom Anfang der Geschichte hier, wird gerade gefüttert, also hat Gorju Zeit zum Plaudern. „27 Hunde sind heute hier, manche halbtags, andere bis zum Abend“, erzählt sie. Die Maximalkapazität liegt bei 40 Tieren. Platz ist reichlich: 1.000 Quadratmeter Fläche, sicher umzäunt, damit auch ja keiner ausreißt. Überall Strandkörbe, Spielgeräte, „jedes Tier hat eben sein Lieblingsplätzchen“.
Im Eingangsbereich steht ein Regal mit Plastikboxen, säuberlich beschriftet mit den Namen der Vierbeiner. Durchaus auf Kindergarten-Niveau sind auch die Preise: Wer sein Tier einen Monat ganztags in Obhut gibt, ist mit rund 300 Euro dabei. Mittlerweile betreibt Gorju eine zweite Einrichtung in Neuss, insgesamt beschäftigt sie schon sieben Mitarbeiter.
Wilde Übernahmeschlacht um Online-Händler aus München
Dass viele Deutsche auf den Hund gekommen sind, kriegt sie ganz direkt mit: „Wir haben immer mehr Anfragen, die Leute organisieren sich für den Fall, dass sie wieder häufiger am Arbeitsplatz sind.“ Und dass sich das Standing von Haustieren massiv geändert hat, bestätigt auch Gorju. „Für viele ist ein Tier wie ein weiteres Kind“, sagt sie.
Das mag man süß finden. Doch die Tierliebe der Deutschen ist an anderer Stelle längst: ein knallhart kalkuliertes Investitionsgeschäft, oberstes Level! Beweis: das irre Gezerre um Zooplus, einen Online-Händler für Tierbedarf aus München. Über Monate lieferten sich zwei der weltgrößten Finanzinvestoren eine Bieterschlacht um den Laden, bis sie ihn am Ende für sagenhafte 3,5 Milliarden Euro übernahmen. Fast gleichzeitig wurde bekannt, dass die steinreiche deutsche Reimann-Familie einen 5 Milliarden US-Dollar schweren Topf aufgelegt hat. Investitionsziel: Tierkliniken.
Was das zeigt: Die absolute Hochfinanz sieht beim Umsatz auf dem Feld des Haustierbedarfs noch richtig Luft nach oben. Und orientiert sich dabei wohl auch am Ausland. So betrug der Umsatz von Chewy, einem US-Online-Shop für Tiernahrung, zuletzt 7 Milliarden Dollar, Unternehmenswert derzeit: rund 30 Milliarden Dollar. Und zack – erscheint der Kaufpreis für Zooplus plötzlich gar nicht mehr so utopisch.
Krankenversicherung für Hund und Katz
Auch das neuerdings boomende Investoren-Interesse an Tierkliniken und Tierarztpraxen ist vor allem renditegetrieben. Laut der Konsumentenumfrage „Statista Global Consumer Survey“ gehen zwei Drittel der Deutschen mit ihrem Tier mindestens einmal im Jahr zum Tierarzt. Die Folge: Krankenversicherungen für Haustiere werden hierzulande immer beliebter.
Auch internationale Multis wie Mars oder Nestlé haben bereits erste Tierkliniken hierzulande erworben. Wohin die Reise gehen kann, zeigt ein weiterer Blick gen USA. Dort nämlich betreibt allein der Schokoriegelhersteller Mars seit Jahren mehrere Tausend Tierarztpraxen und Tierkliniken …
Das Thema Tier … … ist ein emotionales, klar. Aber manches kann man auch in schnöde Zahlen packen. Unterm Strich steht immer: Wachstum!
Gesundheit: Warum Tiere uns Menschen guttun
- Fitmacher. 68 Prozent der Hundehalter und 61 Prozent der Katzen-Fans geben laut einer Studie an, dass sich ihre Gesundheit durch die Tierhaltung verbessert hat.
- Happymacher. Bezüglich der Lebenszufriedenheit sagen 88 Prozent der Hunde- und 83 Prozent der Katzenhalter, dass sie sich durch ihre Tiere besser fühlen. Verantwortlich dafür ist auch das Bindungshormon Oxytocin, das beim Streicheln eines Tiers im menschlichen Gehirn ausgeschüttet wird.
- Schlankmacher. Klarer Fall: Hundehalter müssen Gassi gehen und bewegen sich daher mehr an der frischen Luft. Das verbrennt Kalorien, bekämpft Übergewicht, Arthrose und Muskelverspannungen. Insbesondere Hundehaltung scheint sich zudem positiv auf das vegetative Nervensystem auszuwirken. Auch das Stresslevel sinkt.
- Lebensspender. Krasse Kunde aus Schweden: Dort verglichen Forscher vor einigen Jahren die Daten von mehr als 3,4 Millionen Frauen und Männern. Und konnten belegen, dass insbesondere das Halten eines Hundes das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung mindert. Besonders bei Alleinstehenden. Außerdem sank das Risiko, früher zu sterben. Auch Langzeitstudien aus Deutschland zeigen, dass Haustierhalter weniger häufig zum Arzt müssen als Menschen ohne Tier.
- Freudenspender. Studien belegen, dass der Kontakt mit Tieren älteren Menschen mehr Lebensfreude schenkt. Schon die Anwesenheit von Tieren wirkt beruhigend, Herzfrequenz und Blutdruck sinken.
- Wärmespender. Bei vielen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen werden Tiere zur Therapieunterstützung eingesetzt. Dabei macht man sich das große emotionale Potenzial von Hunden, Katzen, aber auch Pferden oder Lamas zunutze. Denn: Tiere strahlen Wärme, Sicherheit und Vertrauen aus. So unterstützen sie die Therapie. Es gibt unzählige Anwendungsfälle, darunter beispielsweise Autismus, Suchterkrankungen, Schizophrenie oder Burn-out.
Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher.
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