Das Treffen findet in Hamburg statt, wo die Redaktion von AKTIV im Norden ihren Sitz hat. Die vier Teilnehmer sind nicht nur Jungwähler, sondern auch selbst politisch aktiv. Die Redaktion hat auf die Auswahl der Personen keinen Einfluss genommen, sondern vier Parteien (CDU, SPD, FDP, Grüne) aus vier norddeutschen Ländern gebeten, einen jungen Vertreter aus ihren Reihen zu schicken. Es kommen: Lukas Kilian (CDU, Schleswig-Holstein), Amanda Selbig (SPD, Niedersachsen), Ria Schröder (FDP, Hamburg) und Ronja Thiede (Grüne, Mecklenburg-Vorpommern).
Lassen Sie uns mit einem gängigen Vorurteil beginnen. Es heißt oft, die Jugend von heute sei ziemlich unpolitisch. Trifft das zu?
Ria Schröder: Vor einigen Jahren hätte ich vielleicht zugestimmt, aber heute sehe ich das etwas anders. Wir haben gerade in letzter Zeit Entwicklungen erlebt, mit denen keiner gerechnet hätte. Viele sicher geglaubte Errungenschaften wurden plötzlich infrage gestellt. Das hat auch das Denken der Jugend verändert.
Welche Ereignisse meinen Sie damit konkret?
Ria Schröder: Ein Thema, das mit Sicherheit alle bewegt, ist die Flüchtlingskrise. Hunderttausende von Menschen suchen bei uns Schutz vor Verfolgung und Krieg. Das hat eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Ein Beispiel dafür ist die Hamburger Kleiderkammer, für die sich unglaublich viele Helfer aller Altersklassen engagiert haben. Oder denken Sie an die Bewegung „Pulse of Europe“, die sich für Europa stark macht. Da sind jede Menge Jugendliche dabei.
Lukas Kilian: Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen. Vor der Landtagswahl in Kiel habe ich viele Gespräche in Schulen geführt und dabei festgestellt: Das Interesse an politischen Themen hat spürbar zugenommen, weil die Jugendlichen begriffen haben, dass Politik uns alle betrifft. Die Euro-Krise, der Brexit und das Erstarken nationalistischer Ideologien sind Phänomene, die vor unserer Haustür passieren und Einfluss auf unser Leben haben. Das wird begriffen.
Politisches Handeln hat ja idealerweise immer auch mit Werten zu tun. Gibt es diesen Wertekanon in der Jugend noch – zum Beispiel bei den Grünen?
Ronja Thiede: Ich glaube schon. Und das hat unter anderem damit zu tun, dass ich miterlebt habe, wie engagiert sich viele Jugendliche in der Flüchtlingshilfe verhalten haben. Das war wirklich beeindruckend. Aber auch in anderen sozialen Bereichen und bei Umwelt-Themen sind Jugendliche sehr aktiv, und das ist aus meiner Sicht ein Beleg dafür, dass es durchaus noch Werte gibt, an denen man sein Handeln orientiert.
Amanda Selbig: Wie politisch die jungen Leute sind, sieht man nicht zuletzt an den Mitgliederzahlen der Parteien. Die SPD hat in diesem Jahr deutlich zugelegt, und Ähnliches hört man aus anderen Parteien. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass politisches Handeln heute oft ganz anders aussieht als früher.
Inwiefern?
Amanda Selbig: Wer damals etwas bewegen wollte, trat einer Partei bei und engagierte sich dort – mal mit Erfolg, mal ohne. Heute gibt es deutlich mehr Möglichkeiten, beispielsweise die Arbeit in einer Initiative oder einer NGO, also einer Nichtregierungsorganisation. Außerdem kann man sich dank der digitalen Medien mit anderen Menschen vernetzen und damit Dinge in Gang bringen, ohne gleich Mitglied einer Partei werden zu müssen.
Wie klassische Politik aussieht, war kürzlich wieder beim G-20-Gipfel in Hamburg zu besichtigen. Die Veranstaltung wurde schon im Vorfeld kontrovers diskutiert. Sind solche Events aus Ihrer Sicht noch zeitgemäß?
Lukas Kilian: Ich glaube schon, denn die Geschichte zeigt, dass persönliche Gespräche durch nichts zu ersetzen sind. Denken Sie an Helmut Kohl: Der galt ja zu Recht immer als begnadeter Netzwerker und hat nach dem Fall der Mauer in vertraulichen Treffen mit den Regierungschefs zahlreicher Länder erreicht, dass aus Ost- und Westdeutschland wieder eine Nation wurde.
Ria Schröder: Ich sehe das ähnlich. Es ist – bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Details – sicher kein Nachteil, wenn Politiker friedlich miteinander reden. Mir fallen da spontan Trump und Putin ein, die sich nach eigenen Angaben vor dem G-20-Gipfel noch nie persönlich gesehen hatten. In Hamburg hatten sie erstmals Gelegenheit zu einem längeren Gespräch.
Die Kommentare aus den anderen politischen Lagern waren teilweise nicht so positiv, vor allem nach den Ausschreitungen, die es während der Gipfeltage gab …
Ronja Thiede: Was das angeht, ist die Sicht der Grünen sehr differenziert. Wir lehnen Gewalt klar ab und distanzieren uns eindeutig von den Personen, die sich an den Krawallen beteiligt haben. Allerdings muss man beide Seiten sehen, und da gibt es auch Hinweise auf Fehlverhalten der Polizei. Man hört unter anderem, dass die Strategie der Deeskalation nicht immer durchgehalten wurde.
Ria Schröder: Die pauschale Kritik an der Polizei, die von einigen Seiten zu hören ist, gefällt mir nicht. Ich finde das unangemessen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Gipfel offensichtlich von einigen Autonomen und Gewalttätern zu eigenen Zwecken missbraucht wurde. Da wurde geplündert und zerstört, das hatte mit politischem Protest nichts zu tun.
Amanda Selbig: Was mir nicht gefällt, ist die pauschale Unterstellung, es wären hier vor allem „linke Aktivisten“ am Werk gewesen. Diese Einordnung ist so nicht richtig, und sie lässt sich auch nicht belegen.
Lukas Kilian: Einspruch. Warum nennen wir die Dinge nicht beim Namen? Natürlich waren da in erster Linie Linksextremisten am Werk. Das sollte deutlicher gesagt werden, und wenn das nicht passiert, zeigt das aus meiner Sicht, dass wir in Deutschland immer noch ein Problem mit diesem Begriff haben.
Amanda Selbig: Ich finde einen anderen Punkt viel wichtiger, nämlich die Frage, ob eine solche Veranstaltung überhaupt dazu beiträgt, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Beispiel Migration: Das Thema stand auf der Agenda, aber es war kein einziger Flüchtlingsvertreter eingeladen.
Ria Schröder: Das stimmt so nicht. Es waren durchaus Teilnehmer dabei, die die Belange der Flüchtlinge vertreten haben. Außerdem fand vorher eine Veranstaltung in Berlin statt, bei der die Kanzlerin mit Flüchtlingsvertretern gesprochen hat.
Es gab in Hamburg ja nicht nur eine Demo, sondern eine ganze Reihe davon, viele davon friedlich. Offenbar war aber niemand aus dieser Runde dabei. Ist das nicht wieder mal ein Beispiel dafür, dass Politik oft auf einer sehr theoretischen Ebene stattfindet?
Lukas Kilian: Gegenfrage: Muss man zwingend im Stadion gewesen sein, um ein Fußballspiel zu beurteilen? Ich glaube nicht.
Ronja Thiede: Außerdem ist es auch eine Frage der eigenen Möglichkeiten. Politische Arbeit wird meist von Ehrenamtlichen geleistet, da kann man nicht erwarten, dass immer jemand vor Ort ist.
Ein Thema des aktuellen Wahlkampfs ist „Gerechtigkeit“. Hat unser Land tatsächlich ein Gerechtigkeitsproblem?
Amanda Selbig: Hier muss man genau hinsehen, denn schon die Definition des Begriffs ist schwierig, weil er gleichermaßen mit objektiven und subjektiven Faktoren zu tun hat. Keine Frage, wir haben in Deutschland ein hohes Niveau, und vieles ist großartig geregelt. Das ist unbestritten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass relativ viele Menschen bestimmte Dinge in unserer Gesellschaft als ungerecht empfinden, und das sollte man ernst nehmen.
Zum Beispiel?
Amanda Selbig: Ein Thema ist die Vermögensverteilung. Ist es gerecht, wenn jemand Millionen erbt und nie wieder arbeiten muss, während seine Nachbarn sich abrackern und trotzdem nicht wissen, wie sie die Miete noch zahlen sollen? Gegen Reichtum, der ehrlich erarbeitet wurde, ist nichts einzuwenden, aber wer ohne Leistung reich wird, sollte einen angemessenen Teil davon an die Gesellschaft abgeben. Da wäre eine Vermögensteuer hilfreich.
Wäre das mit der CDU und der FDP zu machen?
Lukas Kilian: Nein. Denn in Wahrheit sind die Vermögensgegenstände ja meist schon mehrfach besteuert worden. Beispiel: ein Haus, das vererbt wird. Hier hat der Eigentümer in der Regel im Zusammenhang mit dem Bau und dem Unterhalt bereits etliche Tausend Euro Steuern gezahlt, und zwar in Form von Grunderwerbsteuer, Mehrwertsteuer für Materialien und so weiter und so fort. Warum sollte man nun noch einmal hohe Steuern zahlen, nachdem der Besitzer verstorben ist? Das finde ich ungerecht.
Auch das Thema Bildungsgerechtigkeit wird immer wieder diskutiert. Was muss da passieren?
Ria Schröder: Ich halte Bildung und Bildungsgerechtigkeit für extrem wichtig und glaube, hier müssen wir massiv investieren. Das bedeutet auch, unsere Schulen und Hochschulen besser auszustatten.
Woher soll das Geld kommen?
Ria Schröder: Aktuell gibt es doch so hohe Steuereinnahmen, dass reichlich Geld vorhanden wäre. Außerdem sollte man auf nachgelagerte Studiengebühren setzen, die erst fällig werden, wenn die Absolventen einen Beruf ausüben. Ich habe mein Jura-Studium auch auf einer privat finanzierten Hochschule absolviert und finde das Modell vernünftig. Bildung fängt aber nicht erst auf der Hochschule an, sondern viel früher. Eigentlich schon in der Kita und in der Grundschule. Auch da muss noch vieles verbessert werden.
Amanda Selbig: Für Verbesserungen kämpfen wir auch, aber Studiengebühren sind der falsche Weg. Nicht jeder studiert Jura und verdient anschließend gutes Geld.
Apropos „verbessern“: Viele Beobachter kritisieren die jetzige Regierung für ihre Energiepolitik und fordern Nachbesserung. Was sollte da passieren?
Ronja Thiede: Gut ist, dass nun endlich die Energiewende eingeleitet wurde, aber sie geht immer noch viel zu langsam voran. Das sieht man am CO2-Ausstoß, der in den letzten Jahren nicht wirklich gesunken ist.
Lukas Kilian: Für Umweltschutz sind wir alle, aber man muss die Sache als Ganzes betrachten. Wer beispielsweise Autos mit Verbrennungsmotor abschaffen will, sollte schon beantworten können, wie man die Folgen in den Griff bekommt, denn dieser Schritt würde Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichten. Ähnliche Probleme haben wir beim Windstrom: Bis heute gibt es meines Wissens keine wirtschaftliche Speichertechnik, die im großen Maßstab wirklich funktioniert.
Was sollte die Politik tun?
Lukas Kilian: Sie muss alles tun, um die Entwicklung der erforderlichen Technik zu fördern, damit die Kosten nicht komplett aus dem Ruder laufen. Strom darf kein Luxusprodukt werden.
Ronja Thiede: Gleiches gilt aber auch für die Bereiche Mobilität und Verkehr. Der Staat sollte Elektrofahrzeuge stärker fördern, damit sie für jeden erschwinglich werden.
Lukas Kilian: Da ergibt sich doch vieles von selbst, sobald der Strom durch die neuen Technologien und den Aufbau der nötigen Infrastruktur so günstig geworden ist, dass die Menschen schon aus wirtschaftlichen Gründen E-Autos kaufen.
Auch hier die Frage: Woher soll das Geld für die erforderlichen Maßnahmen kommen?
Lukas Kilian: Momentan brummt unsere Wirtschaft, und die Zinsen sind niedriger als je zuvor. Das sollte man nutzen, um an den richtigen Stellen zu investieren.
Ein klassisches Streitthema im Norden ist die Elbvertiefung. Sollte sie durchgesetzt werden?
Ria Schröder: Auf jeden Fall. Das ist längst überfällig. Auf Dauer wird es ohne die Elbvertiefung nicht gehen.
Und was ist mit den Einwänden der Umweltschützer?
Ria Schröder: Manchmal habe ich den Eindruck, es geht gar nicht um den Umweltschutz, sondern um generelle Ablehnung, die mit einer industriefeindlichen Grundhaltung zu tun hat. Ich finde Umweltschutz ja auch wichtig, aber hier ist offenbar eine Menge Ideologie im Spiel.
Ronja Thiede: Diese These finde ich etwas überzogen. Die geplante Vertiefung und Verbreiterung der Fahrrinne hätte immerhin nachhaltige Folgen für das Ökosystem, da sind sich die meisten Experten einig.
Lukas Kilian: Man sollte auch hier abwägen. Wollen wir uns von der globalen Entwicklung abkoppeln, oder lässt man zu, dass der Hafen in der Bedeutungslosigkeit versinkt? Ich fürchte, wir haben da keine Wahl.
Stichwort Globalisierung: Wie ist die Meinung zu diesem Thema?
Amanda Selbig: Als Volkswirtschaft-Studentin weiß ich natürlich, dass die Globalisierung nicht nur positive Effekte hat. Alles im Leben hat seine zwei Seiten, das ist hier auch nicht anders. Unter dem Strich glaube ich allerdings, dass die Chancen überwiegen.
Ronja Thiede: Ich bewerte das ähnlich – die Chancen sind im Zweifel größer als die Risiken. Wichtig ist, dass man die Dinge gestaltet und Fehlentwicklungen verhindert. Im Übrigen hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass es auch für die Globalisierung natürliche Grenzen gibt.
Der gebürtige Westfale ist seit über 35 Jahren im Medienbereich tätig. Er studierte Geschichte und Holzwirtschaft und volontierte nach dem Diplom bei der „Hamburger Morgenpost“. Danach arbeitete er unter anderem bei n-tv und „manager magazin online“. Vor dem Wechsel zu aktiv leitete er die Redaktion des Fachmagazins „Druck & Medien“. Wenn er nicht für das Magazin „aktiv im Norden“ in den fünf norddeutschen Bundesländern unterwegs ist, trainiert er für seinen dritten New-York-Marathon.
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