München/Berlin. „Kirche, Fußball und Wirtschaft, da ist Homosexualität nach wie vor ein Tabu“, sagt Anselm Bilgri (67). Der Ex-Mönch heiratete jüngst – seinen Lebenspartner Markus Achter. Die Trauung wurde per Livestream aus dem Münchner Rathaus übertragen.

Hoppla! Hat Bilgri tatsächlich recht? Ist Homosexualität im Job wirklich noch immer ein Tabu? Wo doch jedes Kind heute die Flagge mit dem Regenbogen kennt – Symbol all derer, die lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder queer (LGBTQ) sind? Stößt noch immer vor Schranken in den Köpfen, wer anders ist als „Mann liebt Frau, Frau liebt Mann“ und nicht in die gängige Hetero-Rolle passt? aktiv wollte das genauer wissen und hat nachgeforscht. Ob es stimmt, dass es der Karriere schadet, wenn man sich öffentlich zu seiner sexuellen Identität bekennt. Und ob Queer-Sein im Job das Leben schwer macht.

Dumme Sprüche sind aus den Betrieben nicht verschwunden

Eins ist Fakt: Das Berliner Marktforschungsinstitut Dalia Research schätzt den Anteil der LGBTQ-Personen an der Gesamtbevölkerung in Deutschland auf 7,4 Prozent. Umgerechnet bedeutet das: Wir reden über mindestens 3,1 Millionen Erwerbstätige! Randgruppe kann man das ja kaum nennen.

Fatal daher: „So eine Schwuchtel, blöde Lesbe“ – diese dummen Sprüche sind aus den Betrieben noch immer nicht komplett verschwunden. Die Uni Bielefeld und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin haben ermittelt, dass ein Drittel der LGBTQ-Mitarbeitenden aktuell von Diskriminierung am Arbeitsplatz betroffen ist.

Immerhin: Die Situation ist sicher noch nicht gut. Aber geouteten LGBTQ-Beschäftigten kommt heute insgesamt mehr Akzeptanz entgegen als früher. Das besagt die Studie „Out im Office“ des Instituts für Diversity- und Antidiskriminierungsforschung in Berlin. Darin geben drei Viertel der Befragten an, dass sie heute offener mit dem Thema umgehen können als noch vor zehn Jahren, als man den Wert zuletzt erhob.

Gebessert hat sich also was. Doch das reicht noch nicht. Denn: Dass Vielfalt den Unterschied machen kann, die oft beschworene „Diversity“ Teams an Schreibtischen oder den Maschinen sogar nachweislich produktiver macht, ist ja längst klar. In den Betrieben ist das Leben seit Langem ganz schön bunt. Alter, Hautfarbe, Religion, Kultur und soziale Herkunft – in den Belegschaften ist all das seit jeher munter gemischt.

Und längst haben Unternehmen in der Wirtschaft erkannt, dass diese Selbstverständlichkeit auch für die Liebe in all ihren Facetten gelten muss. Beispiel Siemens: „Diskriminierung kostet Arbeitskraft und Arbeitskräfte“ heißt das Credo bei Deutschlands größtem Technologie-Konzern mit Sitz in München.

Das Unternehmen trommelt für mehr Toleranz, auch die Chefetage unterstützt das Anliegen ganz gezielt. Ergebnis: Im „Diversity-Index“ der Uhlala Group in Berlin schneidet Siemens gut ab, belegt Platz drei nach SAP und der Deutschen Bank. Befragt wurden darin Dax-Unternehmen, sie sind Vorbild für andere.

Diskriminierung beginnt manchmal schon in der Kaffeeküche

Sexuelle Orientierung und Identität sind demnach für den Großteil der Firmen fester Bestandteil des Diversity-Managements. Sie knüpfen Netzwerke für Schwule, Lesben und andere und sensibilisieren ihre Beschäftigten für das Thema. „Wichtig ist, dass wir eine Debatte in Gang bringen“, betont Katja Ploner, Diversity-Managerin bei Siemens. Diskriminierung fange im Kleinen an, sagt sie. In der Kaffeeküche zum Beispiel: Wenn ein Mitarbeiter vom tollen Radausflug mit seiner Frau erzählt, guckt sein Kollege betreten zu Boden. Auch er war am Wochenende unterwegs, mit seinem schwulen Partner. Darüber mag er im Job aber lieber nicht reden.

Denn wie gut ein Unternehmen hier auch aufgestellt sein mag – „die Angst vor dem Outen kostet viel Energie“, sagt Ploner. Deshalb macht das Unternehmen Mitarbeitenden aller Standorte entsprechende Gesprächsangebote.

Was bedeutet eigentlich die Abkürzung LGBTQ+?

  • L = Lesbisch: Frauen, die andere Frauen lieben, sich also zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen.
  • G = Gay: Männer, die auf Männer stehen, bezeichnet man als homosexuell oder schwul (englisch gay).
  • B = Bisexuell: „Bi“ sind Menschen, die sowohl Frauen als auch Männer attraktiv finden und begehren.
  • T = Transgender: Jemand, der im Körper eines Mannes steckt, sich aber als Frau fühlt (oder umgekehrt) und diese Rolle leben will
  • Q = Queer: Steht für die Vielfalt in der Liebe und alles, was anders ist als das Schema „Liebe zwischen Mann und Frau“.
  • Plus = Alle Nichtgenannten: Das Pluszeichen (oder *) lässt alles offen und sorgt dafür, dass niemand vergessen wird. Es steht zum Beispiel auch für asexuelle Menschen, die keine erotische Anziehungskraft verspüren.

Andrea Boese, Siemens-Mitarbeiterin in Erlangen, weiß nur zu gut, wie sich solche Unterhaltungen anfühlen. Sie ist lesbisch und engagiert sich schon seit Langem bei Pride@Siemens, dem globalen LGBTQ-Netz im Konzern. Zum Interview sitzt sie vor einer bunten Wand im Pride-Büro, trägt um den Hals ein Schlüsselband in Regenbogenfarben.

„Vor allem Mitarbeitende mit transsexuellem Hintergrund kommen vermehrt zu uns“, berichtet Boese. Weil viele Kollegen mit dem Begriff transgender wenig anzufangen wissen, hat das Unternehmen mehrere Aufklärungsprojekte gestartet. „Wenn das besser verstanden wird, gibt es auch weniger Berührungsängste“, hofft Boese.

Hetze unter Kollegen am besten direkt angehen

Und: „Nicht zuhören ist das Schlimmste, was man im Umgang mit LGBTQ-Kollegen machen kann. Aufstehen und aufklären“, das sei deutlich besser, so die Mitarbeiterin. Nur so entstehe Verständnis und Toleranz.

Wer kränkendes Verhalten unter Kollegen mitbekomme, solle das direkt angehen, so Boeses Rat. Zum Glück gebe es bei Siemens an diesem Punkt viele Unterstützer. „Straight allies“ nennt man solche Menschen: Sie sind selbst nicht queer, setzen sich aber für andere ein.

Und: Offenheit macht das Leben für alle ein Stück leichter, hilft nicht zuletzt im Wettstreit um kreative Köpfe. Siemens-Personalerin Ploner erinnert sich an einen Bewerber, schwul, promoviert, Data Scientist. „Er hätte sich jeden Job überall aussuchen können. Doch er hat bei uns unterschrieben.“

Die Community hat viele Vorbilder, auch unter Prominenten

Die transsexuelle Soldatin Anastasia Biefang ist die erste Transgender-Kommandeurin der Bundeswehr. Sie lebte 40 Jahre lang als Mann, bevor sie sich einer Geschlechtsangleichung unterzog. Heute setzt sie sich für queere Belange bei den Streitkräften ein.

Schauspielerin Ulrike Folkerts (rechts, hier mit ihrer Partnerin Katharina Schnitzler): „Es ist Fakt, dass das Fernsehen immer noch viel zu wenig divers ist."

Die deutsche Schauspielerin Ulrike Folkerts (bekannt als Kommissarin „Lena Odenthal“) ist dienstälteste Ermittlerin der Krimi-Reihe „Tatort“ aus Ludwigshafen am Rhein. Im wahren Leben ist sie lesbisch, sie outete sich schon vor mehr als 20 Jahren.

Der Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger war der erste Profikicker, der seine Homosexualität öffentlich machte. Der Sportvorstand des VfB ist Botschafter für Vielfalt im Deutschen Fußball Bund, für sein Engagement wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Der ehemalige Benediktiner-Mönch Anselm Bilgri ist ehemaliger Prior von Kloster Andechs in Bayern. Er ist aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten und heiratete im Frühjahr 2021 seinen langjährigen Lebensgefährten Markus Achter, Manager bei der Deutschen Bahn.

Der Manager Erik Lüngen vom Softwareunternehmen SAP ist eines der bekanntesten Gesichter auf der Liste der deutschen Top-100-Führungskräfte mit Coming-out. Der schwule Manager gilt als Vorbild für LGBTQ+ in der Berufswelt.

Friederike Storz
aktiv-Redakteurin

Friederike Storz berichtet für aktiv aus München über Unternehmen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Die ausgebildete Redakteurin hat nach dem Volontariat Wirtschaftsgeografie studiert und kam vom „Berliner Tagesspiegel“ und „Handelsblatt“ zu aktiv. Sie begeistert sich für Natur und Technik, Nachhaltigkeit sowie gesellschaftspolitische Themen. Privat liebt sie Veggie-Küche und Outdoor-Abenteuer in Bergstiefeln, Kletterschuhen oder auf Tourenski.

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