Korntal-Münchingen. „Früher hat man den Lack nur von oben betrachtet, heute müssen wir durchschauen“, sagt Michelle Paßmann. Die Chemie-Ingenieurin für Farbe und Lack arbeitet in der Technologieentwicklung autonomes Fahren beim Lackspezialisten Wörwag in Korntal-Münchingen: „Autonomes Fahren erfordert einen ganz neuen Blick auf Lacke und Beschichtungen.“

Selbstfahrende Autos orientieren sich mit Sensoren – schon heute sind Einparkhilfen oder Abstandsregler in vielen Pkws und Nutzfahrzeugen verbaut. Idealerweise sieht man die Sensoren nicht, deshalb werden sie zum Beispiel in Stoßfängern oder im Heck versteckt, wo sie auch geschützt sind. Aber: „Das Signal eines Sensors besteht aus elektromagnetischen Wellen und muss mehrere Schichten durchdringen“, so die 28-Jährige im Gespräch mit aktiv.

Effektpigmente wie bei silbernen Autolacken haben großen Einfluss

Zum einen ist da der Kunststoff des Bauteils: „Darauf wird meist der Primer, eine Grundierung, lackiert“, so Paßmann. „Die zweite Schicht ist ein Basislack für die gewünschte Farbe. Den Abschluss bildet der Klarlack, eine Versiegelung, die das fertige Teil dauerhaft vor äußeren Einflüssen schützt.“

Ein Sensorsignal muss jede dieser Schichten zweimal durchqueren – einmal beim Aussenden und einmal beim Empfangen. Eine echte Herausforderung für die Lackprofis, denn etliche Parameter haben Einfluss darauf, wie sich das Signal beim Durchdringen der Materialschichten abschwächt. Fachleute sprechen hier von der Transmissionsdämpfung. Die Dicke und die Geometrie des Kunststoffes sind dabei ebenso ausschlaggebend wie die verschiedenen Bestandteile des Lacks. Effektpigmente etwa, die man in Metalliclacken und der besonders beliebten Autofarbe Silber einsetzt: „Diese kleinen Aluminiumplättchen sind leitfähig und beeinflussen das Signal“, erklärt die Expertin. Darum darf man nicht zu viele beimischen. Aber: „Zu wenig funktioniert auch nicht, denn ein Lack muss schließlich decken, es darf nichts durchscheinen“, erklärt die Stuttgarterin, die übrigens mit dem Rad zur Arbeit fährt.

Signalstärke muss die Probe durchdringen

Bei der Entwicklung der Lacksysteme hilft ein spezielles Messgerät, das an ihrem Arbeitsplatz steht. Dort legt Paßmann Materialproben auf und testet, wie hoch die Signalstärke nach Durchdringung der Probe ist. „Mit den Messergebnissen kann ich die Stellschrauben identifizieren, mit denen wir das Lacksystem so einstellen können, wie es die Kunden und die Anwendung verlangen“, sagt die junge Frau. Überhaupt sei Optimieren ihre Leidenschaft, sie trage wohl ein „Ingenieurs-Gen“ in sich, meint sie augenzwinkernd: „Auch meine Wohnung habe ich nach einem exakten Plan renoviert, um das Optimum herauszuholen.“

Allerdings haben Anbauteile wie Stoßfänger sicherheitsrelevante Funktionen, etwa als Knautschzone beim Crash. „Man kann sie nicht beliebig verändern, so sind das Gewicht und der Materialverbrauch Themen, die wir berücksichtigen müssen.“ Mit „wir“ meint sie Kollegen, Zulieferer und Kunden: „Lacksysteme zu entwickeln, ist Teamarbeit!“ Im Unternehmen kennt man ihre Arbeit an den radartransparenten Beschichtungen: „Kollegen kommen mit Messergebnissen von Kunden zu mir, wenn sie denken, dass diese mir weiterhelfen – das ist häufig dann auch so“, erzählt sie.

Die Pandemie erforderte schnelle Online-Lösungen

So richtig losgelegt hat sie nach Abschluss ihres Studiums im Oktober 2019. Etliche Reisen, Termine bei Kunden und Lieferanten standen auf dem Programm. Dann kam Corona – doch davon ließ sie sich nicht ausbremsen: „Wir haben von heute auf morgen Online-Seminare aus dem Boden gestampft.“ Aus allen Bereichen – vom Vertrieb bis zur Rechtsabteilung – nahmen Wörwag-Mitarbeiter teil, ebenso Kunden und Lieferanten. Paßmann: „Ich bin schon stolz darauf, quasi als Botschafterin zu zeigen, was wir können und dass wir die Zukunft im Blick haben.“

Nachgefragt

Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?

Im Studium an der Hochschule Esslingen war ich bei Wörwag als Praktikantin, dann als Werkstudentin. Ich lerne gerne Neues, interessiere mich für naturwissenschaftliche Zusammenhänge.

Was reizt Sie am meisten?

Kein Arbeitstag ist wie der andere, das Thema autonomes Fahren ist unglaublich dynamisch. Meine Position ist eine Schnittstelle für die verschiedensten Bereiche vom Lacklaboranten über den Elektro- bis zum Hochfrequenztechniker.

Worauf kommt es an?

Aus Spezialwissen baue ich eine Informationsbasis auf. Dazu muss man neugierig sein, kommunikations- und teamfähig. Denn die Ansprechpartner kommen aus vielen unterschiedlichen Bereichen.

Andrea Veyhle
Autorin

Nach dem Germanistik- und Anglistik-Studium absolvierte Andrea Veyhle ein Volontariat und arbeitete für eine Agentur. Seit 2007 ist sie freiberuflich für verschiedene Verlage tätig. Für aktiv berichtet sie in Reportagen über die Chemie in Baden-Württemberg und stellt mit Porträts die vielseitigen Berufsbilder der Branche vor. Außerdem erklärt sie, wo uns chemische Produkte im Alltag begegnen. In ihrer Freizeit experimentiert sie gerne in der Küche, Kalorien strampelt sie auf dem Rennrad wieder ab.

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