Struktur ist eines der wichtigsten Bedürfnisse von Demenzpatienten. Sie organisiert das Leben und entlastet Gehirne, in denen es zunehmend unübersichtlich zugeht. Struktur gibt Orientierung – und das auch im Wortsinn: als Muster auf Fußböden.

„Wir brauchen Böden mit ruhigen Strukturen. Und Böden, deren Anmutung Demenzpatienten in ihrer Erinnerung abholt“, schildert Gipsy Debono. Die Deutsch-Brasilianerin entwirft als Customization Designerin bei Tarkett individuelle Dekore. Der französische Weltkonzern mit einem Verwaltungssitz in Ludwigshafen zählt demenzfreundliche Bodenbeläge zu seinen Spezialitäten: Ende 2020 hat Tarkett den Vinylbelag „Serene Oak“ auf den Markt gebracht, die „Ruhige Eiche“. „Vor Serene Oak haben wir uns bei demenzfreundlichen Böden aus dem Bestand bedient“, sagt Thorsten Beinke, Chef von 25 Mitarbeitern, die für Tarkett im luxemburgischen Clervaux Beläge designen, individualisieren und produktionsreif machen. „Serene Oak war das erste Mal, dass wir direkt auf diesen Bedarf hin entwickelt haben.“

Wichtig bei Demenz: Ruhige Muster, keine Astlöcher, Brauntöne

Debono war verantwortlich für das Produktdesign. Am Anfang standen für die 41-Jährige viele Recherchen. Ihre Leitfragen: Wie geht es Demenzkranken psychisch? Was können sie physisch mit den Augen noch wahrnehmen und mit dem Gehirn verarbeiten? Sie las Fachartikel, sprach mit Pflegern, beobachtete erkrankte Eltern von Freunden und besuchte Tagungen zur Einrichtung von Seniorenwohnheimen. Vor ihrem Einstieg bei Tarkett 2018 hatte sie unter anderem in der Luftfahrtindustrie gearbeitet. Ihr Entwurf für Serene Oak aber, so wirkt es im Gespräch, wurde zu etwas Besonderem. Einem Design, das eine zentrale Rolle im Leben von Menschen spielen kann. „Ziehen Demenzpatienten in ein Wohnheim, brauchen sie Wohlbefinden und Geborgenheit.“

Und dazu kann ein Bodenbelag für Zimmer und Aufenthaltsräume beitragen. Dass er eine Holzoptik haben würde, stand für Debono schnell fest. „Holzböden sind die Kindheitserinnerungen der Menschen.“ Komplexer wurde es bei Maserung und Musterung. „Astlöcher haben wir verworfen. Ein Demenzkranker könnte sie für etwas Heruntergefallenes halten und versuchen, es aufzuheben. Unruhige Muster könnte er wie eine Welle wahrnehmen und Schlangenlinien laufen. Auch die Fugen müssen angepasst sein, damit der Patient sie nicht als Stolperfallen wahrnimmt.“ Die Farbpalette mit vier Brauntönen und einem Mittelgrau wiederum erklärt sich neben der Holzanmutung durch den LRV: Der Light Reflectance Value (Lichtreflexionswert) bestimmt unter anderem, wie gut ein Mensch Kontraste zwischen Oberflächen wahrnimmt und sich entsprechend zurechtfindet.

Virtual Reality im Demenz-Design

Um sich in ihre Zielgruppe einzufühlen, hat Debono auch eine Tarkett-Eigenentwicklung genutzt: VR-EP. Die „Virtual Reality-Empathy Platform“ ist eine Software für 3-D-Brillen, die das Nachempfinden der Sinneswahrnehmungen von Senioren erlaubt, indem sie zum Beispiel Sichteinschränkungen simuliert. Mit der Brille konnte Debono sich in einen virtuellen Raum versetzen, Muster und Farben auf dem Boden „auslegen“ und auf Eignung testen. „Demenz kann man nicht anziehen wie einen Fettanzug. Mit der 3-D-Brille ist es aber sehr realitätsnah.“

Daneben macht Tarkett Testinstallationen von Böden in Heimen, überprüft so Abnutzung und Chemiebeständigkeit und beobachtet die Reaktionen aller Nutzer. „Ein Dekor ist demenzfreundlich, aber auch Mitarbeiter und Angehörige sollen sich ja damit wohlfühlen“, sagt Debono. Das Feedback zu Serene Oak ist sehr gut. Bis der Belag in größerem Stil verlegt wird, wird es allerdings noch dauern, denn derzeit geplante Seniorenwohnheime müssen erst gebaut werden.

Tarkett setzt auf Human-Conscious Design

Die Entwicklung von Serene Oak ist ein Paradebeispiel für das Vorgehen, das Tarkett „Human-Conscious Design“ nennt, die menschenbewusste Gestaltung. „Als Designer fragen wir uns, was dem Rezipienten guttut“, sagt Beinke. In Krankenhäusern etwa gehe es darum, mit Design den Heilungsprozess zu beschleunigen. „Wie riecht etwas, wie wirken die Farben?“ Nach denselben Prinzipien funktioniert der Entwurf demenzfreundlicher Produkte: „Die vier Pfeiler sind Verstehen, Adaptieren, Handeln und Abgleichen.“ Beinke schränkt zwar ein, dass man sich den Kundenwünschen bei Demenz nur nach und nach annähern könne, weil es mit dem Feedback schwierig sei.

Die Anzahl der Demenzpatienten aber wird wachsen, ihre Bedürfnisse werden besser erforscht – und Produkte besser darauf angepasst werden. „Insofern ist Serene Oak nur ein Anfang.“ Durch die Holzoptik habe es das Zeug zum Klassiker, sagt Debono und bekräftigt ihren Anspruch: „Es geht nicht darum, Demenzpatienten ein Krankenhaus einzurichten. Sondern ein neues Zuhause.“

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