Berlin/Karlsruhe. Ganz normaler Alltag im Rangierbahnhof: Ein Eisenbahner mit Warnweste, Helm und Schutzhandschuhen schreitet von Waggon zu Waggon, krabbelt dazwischen, hängt Haken ein und steckt Druckluftschläuche zusammen. Das ist umständlich – und gefährlich. Hunderttausende Güterwaggons werden immer noch wie vor mehr als 150 Jahren per Hand mit einer simplen Hakenkupplung verbunden.
Das kostet Zeit und Geld – und ist einer der Gründe, warum die Bahn gegenüber dem Lkw an Konkurrenzfähigkeit verloren hat (siehe Grafik) und in der Klemme steckt.
Mit einer digitalen automatischen Kupplung (kurz: DAK) will die Bahn das ändern. Allerdings nicht im Alleingang, sondern mit allen europäischen Eisenbahngesellschaften. Die neue Technik ist eine Art Revolution.
Es ist bereits der dritte Anlauf für eine automatische Kupplung
Dafür sei es jetzt auch höchste Eisenbahn, meint Stefan Hagenlocher. „Europaweit verlieren die Bahnen weiterhin Marktanteile. Der Wettbewerbsdruck nimmt sogar noch zu“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter der hwh Gesellschaft für Transport- und Unternehmensberatung in Karlsruhe und ehemalige DB-Cargo-Manager. Schon zweimal – in den 70er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – sollte das automatische Kuppeln Wirklichkeit werden. Passiert ist: nichts!
Hagenlochers Unternehmen hat für das Bundesverkehrsministerium eine Studie zur Einführung der DAK verfasst, die im Sommer 2020 veröffentlicht wurde. Ganz billig wird das alles nicht. 6,4 bis 8,6 Milliarden Euro soll die europaweite Umrüstung kosten.
485.000 Waggons müssen europaweit umgerüstet werden
Bis zu 485.000 Güterwaggons müssten mit der neuen Technik ausgestattet werden. Dazu kommen 17.000 Loks. „Dafür bietet die neue Kupplung die Möglichkeit zur Digitalisierung und Automatisierung von betrieblichen Prozessen“, so Hagenlocher. Pro Jahr ließen sich dadurch mindestens 750 Millionen Euro einsparen. Aber erst dann, wenn die Umrüstung abgeschlossen ist. Sie wird sich also nur langfristig rechnen. Deshalb brauchen die Eisenbahnen und private Waggonvermieter wie die VTG laut Studie eine finanzielle Unterstützung durch die Politik.
Bislang müssen die bis zu 60 Waggons eines Zugs einzeln per Hand zusammengekuppelt werden. Danach schreiten Eisenbahner den bis 740 Meter langen Zug ab, kontrollieren die Bremsen, die Wagenreihung – und den technischen Zustand: ob die Radsätze in Ordnung sind, die Kupplungen richtig sitzen und die Ladung gesichert ist.
All das dauert. Allein bei der Bremsprobe sind es 30 bis 40 Minuten. Bei der neuen Technik soll das in zehn Minuten erledigt sein, auch dank Sensoren an den Bremsen. Die durch den Zug laufenden Datenleitungen liefern alle Informationen zum Lokführer, auch über technische Probleme. Und künftig lässt sich dank digitaler Features am Waggon erfahren, wo er sich mit welcher Ladung gerade befindet.
In der Übergangszeit braucht es Spezialwaggons mit zwei verschiedenen Kupplungen
Einen Prototyp präsentierte die Deutsche Bahn im Vorjahr. Bis zum Sommer werden jetzt in einem Gemeinschaftsprojekt von sechs staatlichen und privaten Güterverkehrsunternehmen vier Kupplungstypen getestet, dann fällt die Entscheidung für ein Modell. Danach wird ein Versuchszug mehrere Monate durch Europa fahren.
Die europaweite Umrüstung sollte schnellstmöglich erfolgen, drückt Hagenlocher aufs Tempo. Ein Parallelbetrieb beider Kupplungen sei eine enorme Herausforderung. Weil sie nicht kompatibel und teure Adapterlösungen nur für die Loks finanzierbar seien. Damit Züge trotzdem mit beiden Systemen fahren können, braucht es spezielle Waggons, die an einer Seite eine klassische und an der anderen eine automatische Kupplung haben. Deshalb das Projekt auszubremsen, sei keine Alternative: „Da müssen wir durch.“